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Intellektulla

Der Nachteil von Fortsetzungsgeschichten ist, dass man zuerst den ersten Teil lesen sollte, bevor der zweite ungestört durch den Kopf brummen kann.

Ich hatte gerade die dritte Runde in Folge gewonnen und attestierte mir selbst mehr Glück mit diesem Buzzerdings, als tatsächlichen Verstand, als sich Unmut in der Masse breit machte, sogar sehr breit, so breit, dass sich der bereits erwähnte Opa Heinrich, auch der "kleine Opa" genannt und im Prinzip eine herzensgute Seele, zu einem für mich äußerst komischen, weil nicht erwarteten und schwer nachvollziehbaren, Spruch hinreißen ließ: "Bistn intellektueller Alleswisser, wa." Häh? Was soll das denn jetzt? Ich wusste nicht, wie er das tatsächlich meinte, ironisch, sarkastisch, zynisch oder vielleicht sogar ernst? Letzteres verneinte ich und lächelte ihn ein wenig madig an. Aber scheinbar war das eine Massenmeinung, zumindest widersprach ihm keiner, sondern alle schauten mich nur komisch an, keiner lachte.

"Wie? Was? Häh? Was meinste denn jetzt damit?"
"Scheinst ja allet zu wissen, nur das nich. Doch kein Intellektueller."

Mehr kam da nicht, und schlimmer noch: Sie ließen mich einfach sitzen mit meiner Ahnungslosigkeit und begannen stattdessen und an mir vorbei, eine angeregte Diskussion rund um das Thema "intellektuell", die von Kalle, einem guten, alten Freund von mir, mit den Worten: "Intellektulla? Wasn das?" eröffnet wurde. Er öffnete sich sein ca. 20zigstes Bier, sein gefühltes zweites, und lehnte sich genüsslich zurück.

Eine entfernte Verwandte aus der märkischen Provinz berichtete von einer Liebschaft mit einem angeblichen Intellektuellen, natürlich einer mit Brille und abgewetzter Lederjacke, der ihr nach halb durchvögelter Nacht am liebsten Gedichte vorlas, die sie und ihn zum Weinen brachten. Tante Frieda freute sich, dass Neffe Karlo es endlich zum Architekten geschafft hatte und er nun endlich berechtigter Weise seine Sonntage im Café "Der Kunstplanet dreht sich links herum" mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verbringen konnte, ein Spaß, den er sich schon immer gegönnt, den Tante Frieda aber immer missmutig beäugt hatte: "Tu was für dein Studium, Jung, damit was aus dir wird."

Die Diskussion plätscherte vor sich hin, jeder hatte etwas zu sagen und ich verzweifelte einsam vor mich hin. Verdammte Axt, was hat das alles mit Intellektualität zu tun? Häh? Wo war ich hier eigentlich gelandet? Ja, ich freue mich über Leute, die es schaffen, die Welt mit ihren eigenen Augen zu sehen, wie z. B. diese Dame, die sich letztens so köstlich auf der Parkbank über die BILD amüsierte und auf meine zarte Nachfrage hin erklärte, dass sie diese Form von zeitgenössischer Kunst als wunderbar erfrischend empfinde, diese kurzen Geschichtchen, die mit so viel Eifer erfunden wurden, und die entsetzt darüber war, dass es Leute gibt, die diesen BLÖDsinn tatsächlich Ernst nehmen. Oder dieser Typ auf dem Balkon, der mich mit seinem blitzenden Powerbook auf sich aufmerksam gemacht hat und mit dem ich folgenden kleinen Dialog erleben durfte:

"Was machen Sie denn da?"
"Ich photoshoppe."
"Ist schon teuer."
"Nee, hab ich mir gezogen, mit Azureus."
"Aha. Und sonst?"
"Sonst? Sonst sag ich Leuten, die mich fragen, was ich hier mache: Fick dich ins Knie."
"Sehr interessant."

Ob die beiden allerdings als Intellektuelle durchgehen könnten und ihr Leben damit irgendwie besser war, als das anderer Leute, wollte ich gerade mit einem Blick in die Wikipedia verifizieren, als das Bier ausging und Kalle mich unnachgiebig aufforderte, mit ihm zur "Tanke" zu fahren. Wir stiegen in seinen Kadett GSI ein, "Sächzähn Vauä" - eigentlich wollte er immer einen Manta haben, und kurvten angetüdelt durch die Gegend, dazu dröhnte uns eine Berliner Untergrund-Band namens "vögeln, saufn, autofahn" die Ohren voll, an ein ordentliches Gespräch war nicht zu denken. Kalle sagte die ganze Zeit irgendetwas und ich meinte, dieses von seinen Lippen ablesen zu können:

"Verdammte Scheiße, nur weil einer nachm Vögeln Heine vorliest und dabei rumheult, isser doch noch lange kein Intellektulla. Oder dieser komische Fatzke mit der FAS, nur weil er die in soner verrauchten Künstlerkneipe ne dicke Zeitung liest, isser doch auch noch lange nich Intellektulla, oder? Könnter ja auch in meiner Stammkneipe, der Biertulpe, machen. Das wär doch mal was. Ich kenn aber einen, der liest Dante aufm Klo, vielleicht is das ja nen Intellektulla. Is doch allet insjesamt nen doller Bockmist."

Danach sagten wir einfach gar nichts mehr. Ich holte das Bier, wuchtete die Kästen missmutig und nachdenklich in den Kofferraum, der eigentlich keiner war, sondern mehr Bassraum, wir kurvten angetüdelt zurück auf die Weide, setzten uns in die letzte Ecke, zur traurigen, aber manchmal doch in sich hinein lächelnden Doreen, und sprachen von den guten alten Zeiten, während eine Bierflasche nach der anderen geleert wurde (Kalle rief immer lauter: „Jibb ma noch ne Hülse raus, Dicker“). Und am Ende lachten wir gemeinsam mit Doreen über Intellektulla. Keine Ahnung, wer das war.
 
Do, 11.05.2006 |  # | (447) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: blogosophie



 
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