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Alex

Als Win die letzten Zeilen tippte, schlief Liz schon, draußen wehte ein leichter Wind, er fröstelte und hatte seit Wochen das erste Mal das Gefühl, eine Zigarette rauchen zu müssen. Er speicherte den Text und las ihn noch einmal, atemlos.

Alex

Grau-blauer Himmel über stoppeligen Feldern, ein paar Wolkenfetzen am Himmel, die Sonne steht nicht mehr so hoch am Himmel, wärmt noch, lässt aber nicht mehr schwitzen und der vorüber ziehende Wald wird langsam bunt. Alex fährt mit dem Fahrrad gemächlich die leere Landstraße entlang, die Bäume über ihm rauschen leise im Wind, in dieser entlegenen Ecke kommt selten ein Auto vorbei, dort hinten geht es rechts auf den Feldweg zum alten Militärgelände. Er liebt diesen verlassenen Ort, die langsam zerfallenden Kasernen, Schuppen, Bunker, meist unverschlossen, kein Wachdienst, der ihn auf seiner Entdeckungstour stören könnte. Er liebt den Verfall, rostige Türen, eingeworfene Fensterscheiben, heraus gebrochene Fensterrahmen, Löcher in Fußböden, der Geruch ausgelaufenen Öls, Autowracks, Stunden, Tage hat er hier schon verbracht, hunderte Fotos gemacht, die aufgereiht über seinem Schreibtisch hängen, ein magischer Ort, der ihn immer wieder anzieht und verzaubert.

In einem Waldstück, etwas abgelegen von den Hauptgebäuden, hatte er beim letzen Mal ein paar verborgene Bunker entdeckt, die er sich heute anschauen will, herum- und hereinklettern, vielleicht gibt es Neues zu entdecken. Die Kamera hat er immer dabei, einen kleinen Rucksack mit einer Taschenlampe und einer Wasserflasche sowieso. Er muss sein Fahrrad auf dem letzten Stück durch den lichten Kiefernwald schieben, dort hinten sind die Bunker, kaum von den umliegenden Hügeln zu unterscheiden. Das Licht ist unwirklich, ein paar Sonnenstrahlen scheinen am feuchten Grasboden des Waldes zu lecken, entfernt hört er das Knacken von Ästen, Rehe, Hirsch, vielleicht auch Wildschweine, Menschen gibt es hier nicht, nicht mehr.

Der erste Bunker scheint verschlossen, eine rostige Tür versperrt den Weg, sie hängt schief vor dem Eingang, hat sich verkantet, man kann durch einen Spalt in den Bunker schauen, Alex leuchtet mit der Taschenlampe herein, modriger Geruch schlägt ihm entgegen, er sieht umgefallene Regale, Metalltische, Papiere, Kabel, alte Telefone, alles liegt verstreut herum, kreuz und quer. Die Tür bekommt er nicht auf, er versucht es ein paar mal mit großer Anstrengung, er bräuchte schweres Werkzeug, einen Flaschenzug vielleicht, alles nicht machbar, vielleicht hat er beim nächsten Bunker mehr Glück.

Die Tür des zweiten Bunkers ist genauso verrostet, wie die des ersten, allerdings ist sie noch intakt, zudem nicht verschlossen, sondern nur angelehnt, eine Einladung für jeden zufälligen Entdecker. Alex öffnet sie langsam, sie gibt ein grausames Geräusch von sich, ein lautes Quietschen, an grausames Aneinanderreiben rostigen Metalls, ein Geräusch, das durch Mark und Bein dringt und in der Weite des Waldes auf eigentümliche Weise verhallt. Kurz überkommt ihn ein kalter Schauer, alles halb so wild, denkt er sich, verlassene Orte haben ihre ganz eigene Romantik, grausam, kalt, der Verfall ist kein Gedicht eines verklärten Romantikers, es ist die Realität der Menschheit. Mit der Taschenlampe leuchtet er in den Bunker hinein, es scheint sich um eine Art Empfangsraum zu handeln, klein und trotzdem geräumig, eine beängstigend niedrige Decke mit alten Lampen hinter verrosteten Gittern, ein paar leere Regale an der Wand, überall verstreute und vergilbte, meist verfaulte Schriftstücke, kaum noch zu entziffern. Es gibt einen dunklen Gang, der tiefer hinein führt, Alex vermutet, dass er über diesen Gang in die anderen Bunker kommen kann, er macht noch ein paar Fotos im schummrigen Licht, das von außen herein scheint, dann geht er los, ganz langsam und bedächtig, mit der Taschenlampe nach dem Weg suchend.

Die Luft im Gang ist feucht und stickig, es ist stockdunkel, Alex fröstelt, obwohl es nicht sonderlich kalt ist, eine gespenstische Szenerie. Der Gang scheint sehr lang zu sein, es geht stetig nach unten, wie weit soll er überhaupt gehen, was, wenn er nicht mehr herausfinden sollte? Dort hinten ist wieder ein größerer Raum, er leuchtet mit der Taschenlampe dort hin, er erkennt ein paar Schreibtische, große Apparaturen mit analogen Anzeigen, Zeigern und Knöpfen, Kabelwirrwarr, wieder ein paar alte Telefone, langsam, Schritt für Schritt nähert er sich dem Raum, sein Pulsschlag steigt, das Herz pocht bis in seinen Hals, hinter ihm nur noch undurchdringliche Dunkelheit, noch ein paar Schritte, doch dann gibt der Boden plötzlich unter ihm nach, verzweifelt versucht er seinen Fall aufzuhalten, reißt sich dabei die Arme und Hände auf, schreit laut um Hilfe und doch fällt er in tiefes Dunkelheit, unendlich, unaufhaltsam, niemand kann ihn hören, nach dem Schrei die absolute Stille.

Dunkelheit. Ein dumpfer Schmerz im Kopf, ein stechender Schmerz im Bein, Alex tastet um sich herum, er kann nichts sehen, kein einziger Lichtstrahl erreicht das tiefe Loch im Bunker, die Taschenlampe ist beim Fall kaputt gegangen. Er nimmt den Rucksack ab, nimmt die Wasserflasche heraus und nimmt einen Schluck, es tut ihm gut, der Kopf wird klarer, leider. Langsam versucht er, sich seiner Situation klar zu werden, die schmerzende Stelle am Kopf ist feucht und klebrig, wahrscheinlich aufgeplatzt und blutig, das Bein schmerzt bei jeder Bewegung, doch das schlimmste ist die undurchdringliche Dunkelheit, die ihm die Brust fest zudrückt, die Kehle zuschnürt, er bekommt kaum Luft, er hat Angst, Todesangst. Langsam versucht er sich an einer mühsam ertasteten Wand aufzurichten, sie ist feucht, irgendetwas krabbelt unter seinen Fingern, Spinnen vielleicht, Käfer, Kellerasseln, ihm wird schlecht, er muss sich übergeben. Der Ohnmacht nahe tastet er sich an der Wand entlang, der Raum ist scheinbar nicht groß, irgendwo muss eine Tür sein, ein Ausweg, er will heraus, einfach nur heraus, irgendwie. Da, etwas metallenes, kein Stein, kaltes, rostiges Metall, eine Tür, mühsam ertastet Alex die Scharniere, alles noch intakt, bitte, lass sie nicht verschlossen sein, bitte, bitte, bitte, laut ruft er seine Bitte aus und erschrickt sofort über den eigenen Ausruf, der die dumpfe Stille der Dunkelheit jäh zerreißt. Langsam tastet er sich über das stumpfe Metall, er kann erahnen, wie die Tür aussieht, rechts oben und unten sind jeweils zwei große Hebel, die heruntergezogen werden müssen, dann würde sich die Tür öffnen, Freiheit, frische Luft, Hilfe, den Weg in die Stadt könnte er sich zurück schleppen, er will leben, einfach nur leben und nie wieder an diesen Ort zurückkehren müssen.

Mit zittrigen Händen entdeckt Alex den ersten Hebel, es ist der obere, er fühlt sich genauso verrostet an, wie der Rest der Tür, es kommen ihm langsam Zweifel, ob er sich überhaupt öffnen lässt. Und was ist, wenn die Tür offen ist? Der Gang oder Raum dahinter ist wahrscheinlich ebenso dunkel wie dieser hier, man sieht nichts, nicht die Hand vor Augen, keine Wände, kein einziger Lichtstrahl dringt in dieses dunkle Gefängnis. Er hat keine andere Wahl, er muss es versuchen, er muss hier raus. Mit seinem ganzen Gewicht hängt sich Alex an den Hebel, der sich nach mehreren Versuchen mit einem lauten Krachen nach unten bewegt, der erste Teil wäre geschafft. Jetzt musste nur noch der untere nach oben gestellt werden, wenn dies auch so leicht ginge, wäre er frei, frei, einfach nur frei.

Aber er bewegt sich nicht, keinen Zentimeter nach oben. Alex zieht und zerrt, zwischendurch nimmt er immer wieder einen kleinen Schluck aus der sich stetig leerenden Flasche, die Schmerzen in Kopf und Bein werden immer stärker, die Kraft schwindet, die Welt schwindet, die Dunkelheit nimmt ihm den letzten Atem, warmes Blut läuft ihm über das Gesicht, später Tränen, heiße Tränen, verzweifelt nimmt er seine letzte Kraft zusammen, um den Hebel nach oben zu stoßen, nichts, keine Bewegung, kein Krachen, kein Rucken, keine offene Tür, dumpfe und stechende Schmerzen im ganzen Körper, Alex hat keine Kraft mehr, die Dunkelheit wird zur Ewigkeit, er friert, langsam und verzweifelt sackt er auf den feuchten, klebrigen Boden, auf die Spinnen, Käfer, Kellerasseln, er weint, verliert das Bewusstsein, alles ist vorbei, eine Ende in Stille und Dunkelheit.
 
So, 29.10.2006 |  # | (2138) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schreib mal wieder



 
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