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1989

1989, ein beknackter Jahrgang. Man musste in Nachrichten sehen, die man eigentlich nicht sehen durfte, wie Panzer Menschen überrollten und erst kommentierten eingeschworene Genossen dies mit einem "Recht so!", hegten später aber doch Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Überfahrens sich meinungsäußernder Menschen. Schließlich waren es Menschen, die dort gemetzelt wurden.

Schon das Frühjahr begann beknackt, mit häuslichen Streitigkeiten, man kannte das ja aus Filmen, wenn Mann und Frau seelisch auseinanderdriften und junges Fleisch sich zwischen alteingesessene Liebende stellt. Der pubertierende Heranwachsende war damit natürlich überfordert, kam gar nicht klar, mit diesem verzweifelten Lärm, dem keifenden Gelärme, mit den wüsten Beschimpfungen, dem subtilen und offenen Terror der sich immer weiter verlierenden Eheleute, saß zwischen Baum und Borke, im Schwitzkasten der Scheidungsanwälte.

Du liebst mich doch, als Kind muss man ja ständig Liebesbekundungen ausstoßen, denn was bleibt denen denn noch, wenn die Liebe gegangen ist, genau, das Kind, um dessen Liebe es sich scheinbar zu streiten lohnt. Ha, denkt dieses sich, nicht mit mir und läuft davon, innerlich. Und so kommt der Sommer, der Sommer 1989, der letzte Sommer eines scheidenden Landes, der letzte Sommer einer Kindheit, der letzte Sommer von allem möglichen. Man machte plötzlich Urlaube, die früher Urlaub waren, man wanderte auf Gipfel und lag dort an Stränden, mit Marienkäfern übersät und am schönsten waren immer noch die Initiationsrituale im Ferienlager: Die ersten selbst gekauften Zigaretten. Endlich etwas Beständiges und viel blauer Dunst. Und dann ging der Sommer wieder, man kehrte zurück und stellte fest, dass der einzige Wunsch, den man sich drei Wochen lang wünschte, der Traum, der einen drei Wochen lang erfüllte, nicht in Erfüllung gegangen war, nein, nein, es kam viel schlimmer.

Also hinfort ins Brandenburgische, eine Flucht aufs Land, weg von diesen erwachsenen Idioten, das mögen sich auch viele gedacht haben, die dieses Land verließen, alle hatten ihre Gründe, den real existierenden Zuständen durch Flucht zu entkommen, sie ein für alle Mal verschwinden zu lassen, selbst zu verschwinden. Untertauchen, im kalten See, der 1989 das letzte Mal klar war, denn ab 90 begann das große Fischsterben und die Versumpfung der ehemals blühenden Landschaft, aber das war im Sommer 89 noch gar nicht abzusehen. Durch Wälder reisen, ganz allein, die absolute Einsamkeit in riesigen Kiefernwäldern kennen und lieben lernen, seit dem sich nach dieser Einsamkeit, dieser Stille sehnen und in der Ferne ein Fluß, auf dem ein paar Schiffe durchs Land ziehen, nie wieder würde ein Sommer so sein.

In Prag, in Budapest, überall sammelten sich Menschen, um zu gehen, in den Städten wurden Stimmen laut, man bekam das doch mit, das blieb doch nicht verborgen, selbst die Eingefleischtesten merkten wohl, dass hier etwas den Bach runter ging, eine Idee nur noch Makulatur war und nun zwangsläufig erneuert wurde, erneuert werden musste. Männer in Lederjacken, die um einen Hauseingang herum lungerten, ein Mann kommt aus dem Haus und wird in einen bereit stehenden Lada gezogen, geschubst, geprügelt, das alles geht ganz schnell und lautlos, geübte Häscher, die wussten, was sie taten, man selbst wusste nicht, was dort vor sich ging, aber man spürte: Es war nichts Gutes.

Und dann dieser Feiertag im Oktober, irgendwo da draußen zogen junge Menschen mit Fackeln die Straße entlang, um dem scheidenden Greis irgendeine Ehre zu erweisen, ein Feuerwerk wurde losgelassen und ein paar Straßen weiter trieb man die unwilligen Arbeiter und Bauern zur gemeinschaftlichen Verhaftung zusammen, sah man Tränen in den Augen derer, die wussten, was kommen wird, aber nicht auf die Straße gingen, vielleicht weil sie Angst vor dem Morgen hatten? Die Überzeugten zweifelten noch an den schallenden "Wir sind das Volk" - Rufen, aber wie wollte man die noch ignorieren?

Diese Wende kam viel zu schnell, die Dinge liefen viel zu schnell ab, als Zwölfjähriger hatte man ja schon mit sich selbst zu tun, wie sollte man da noch diese tiefgreifenden Weltveränderungen mehr als nur zur Kenntnis nehmen? Und dann, am 11. November, der Schritt in eine fremde Welt, durch die aufgebrochene Mauer auf die andere Seite, von der die einen behaupteten, dort lebe der Klassenfeind, während andere die Freiheit dort priesen, auf den Straßen roch es ganz anders und nirgends war ein Klassenfeind zu entdecken und man nahm die, die man liebte an die Hand, führte die Hände der Liebenden zusammen und wanderte an Orten vorbei, die als "alte Heimat" bezeichnet wurden und irgendwie stellte sich Glück ein, zum Jahresende, der lang geträumte Sommernachtstraum ging in Erfüllung und das Jahr endete mit happy end.

(Fragment eines subjektiven Eindrucks.)
 
Mi, 04.11.2009 |  # | (553) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 
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