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Lesereise

Es ist Freitag, die Sonne brennt, die Stirn ist mit einem Netz kleiner, im starken Sonnenlicht glitzernder Schweißperlen überzogen, hier gibt es keine Klimaanlage, keine Gedanken mehr, nur noch Leere und Lärm. Irgendwann, das Gefühl für Zeit geht schnell verloren, vor allem wenn die Armbanduhr mangels betreibender Energie ausfällt, bricht ein reinigendes Gewitter los, Sturm, dicke Regentropfen, helle Blitze, ohrenbetäubender Donner und ich sitze an einem Tisch, gedeckt mit Lebensmitteln, aber es schmeckt mir nicht, denn die Leute, die um den Tisch sitzen, sind nicht die meinen, aber was muss, das muss, sagte auch schon meine Oma und irgendwann wird man ja immer erlöst, morgens um zwei oder so, aber das Zeitgefühl war ja schon verschwunden, Gewissheit gibt es darüber also nicht.

Zeit. Plötzlich hat man ganz viel davon und man steht davor, vor diesem Brocken Zeit und weiß nicht so recht, spinne ich oder ist das so und was soll ich jetzt mit dieser ganzen Zeit anfangen, man muss ja immer viel daraus machen, nutzen, nutzen, nutzen, Nutzen, denn der Brocken, das wissen doch alle, ist aus Eis und Eis schmilzt in dieser Wärme und ich sehe ja schon, dort hinten, an der einen Ecke, da ist schon ein wenig Zeit verloren gegangen, just in diesem Moment, da ich so untätig davor stand und grübelte. Und man hat auch immer ganz viel vor, in der freien Zeit, einen prall gefüllten Terminkalender, damit diese Zeit, die man ansparte, mühsam und sich deshalb auch nach ihr sehnte, irgendwie auch wieder ausgefüllt wird. Manche finden sie auch bedrohlich. Ich nicht. Also, in die Bücherkiste greifen, das ist immer ein möglicher Weg, wenn nicht gerade quality time ist, so heißt das heute, man soll ja diesen Eisblock nicht nur für sich allein haben, sondern großzügig teilen. Mit so manchem auch gern, denn das ist die Freiheit des Menschen: Er kann sich ja doch einiges selbst aussuchen und wenn es nur der Waschtisch bei Ikea ist.

"Die Wohlgesinnten", ein Widerstreit, ach nee, ach doch, na gut, noch dreihundert Seiten, man hat ja schon über tausend hinter sich gelassen, sich durchgekämpft, angesichts des Themas ein schwieriges Wort, und jetzt aufgeben, das wäre ja auch irgendwie feige, irgendwann kommt wohl noch die Stelle, an Hitler in die Nase gebissen wird, eine Absurdität aus dem Führerbunker, draußen das Donnergrollen der Artillerie, Berlin liegt in Schutt und Asche, darin tausende Leichen und immer noch kommen welche dazu und es liegt doch schon so viel Grauen hinter einem,aber gleich ist es vorbei und trotzdem wird noch vom Endsieg geträumt. Hinterher schlage ich dieses Buch wortlos zu, lege es weg und schüttle dreimal brummend den Kopf. Nein, denke ich, nein. Dieser Aue, überall war er dabei gewesen sein und war schon von der ersten Seite an verloren, einem System verfallen, das einem völlig fremd und fern erscheint, wäre es einem selbst auch zu jener Zeit fern gewesen? Und manchmal ist er dann Mensch, manchmal Bestie, manchmal ein Nichts, Menschen werden vergewaltigt, erschossen, erhängt, vergast, der ganze Dreck des Dritten Reiches wird aufgewühlt, so dass man nichts mehr sieht, vor Wut oder Angst oder Hass und man wird hinein gezogen, mittenhinein ins Geschehen und dann doch wieder ausgespuckt, man ekelt sich, es widert einen an, man verzweifelt an der Wahrheit, die man ja doch nicht fassen kann, weil man das alles nicht versteht oder doch versteht und nur nicht verstehen möchte und in der Nacht träumt man davon und wacht Schweiß gebadet auf und immer wieder fragt man sich: Ist das der Mensch? Wird es immer wieder so sein? Aber, dieses Buch ändert im Prinzip nichts, auch wenn es Fragen aufwirft, trotzdem ändert es nichts, nicht mich selbst und andere schon gar nicht.

[Jonathan Littell - Die Wohlgesinnten]
 
Di, 02.09.2008 |  # | (464) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lesereise



 
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