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Großstadtfieber

Ich bin allein. Aber das ist nicht schlimm. Manchmal bin ich dabei einsam, das schmerzt dann ab und zu, aber vom Grundgefühl her ist es angenehm. Ich bin freiwillig allein, es ist so wunderbar ruhig und beschaulich und alles ganz zwanglos, von den eigenen Zwängen einmal abgesehen, man muss sich mit niemandem auseinandersetzen, quälen, keine Rücksicht nehmen, Kompromisse finden, die letztendlich immer faul sind. Es gibt Leute, die erträumen sich ihren Traumpartner und je länger sie dann allein sind, um so idealer wird ihr Idealbild von einem Traummenschen, so dass am Ende kaum noch oder besser gar kein Platz mehr für reale Personen bleibt und sie nur noch von und mit ihren erdachten Traumbild zusammenleben. Vereinsamt. Mir ist das egal. Mein Job füllt mich nicht aus, dafür schreibe ich oder setze mich nachts in die Mitte meines Wohnzimmers und lausche der Stille. Die ist natürlich nicht absolut, irgendwo knarzt, kratzt oder quietscht es immer, schlafende Menschen ächzen in ihren Betten, stöhnen, schreien oder lachen im Schlaf, draußen randalieren ein paar Jugendliche, es fahren Autos, dann wieder Stille. Diese relative Stille erfüllt mich, gibt mir Kraft, ich brauche dann keinen Schlaf, meine besten Ideen habe ich zwischen drei und fünf Uhr morgens.

Sonntags gehe ich in die nahe gelegene Rettungsstelle. Ich nehme mir einen Kaffee aus dem Automaten, setze mich zwischen die wartenden Leute und beobachte sie. Humpelnde, fiebrige, schreiende, weinende Kinder, verstört dreinblickende Erwachsene, mit sichtbaren oder weniger sichtbaren, aber dafür am gequälten Gesichtsausdruck erkennbaren, inneren Verletzungen, Schmerzen, all dies schaue ich mir an, nicht aus Sensationslust, nicht, um mich am Leid anderer Menschen zu laben, nein, mich interessieren allein die Geschichten, die sich hinter den Kulissen verstecken, die Wahrheit, der Schmerz, der hier so lange ausharrenden Menschen, die Geschichten ihres Leids. Selten unterhalte ich mich mit jemandem, meist versuche ich anhand von Gesten, des Gesichtsausdrucks, der Körperhaltung und ab und zu gesprochener Sätze das Schicksal jedes einzelnen Wartenden zu ergründen. Sich prügelnde Männer, die ihre aufgeplatzen Lippen kühlen, Kinder, die sich Fremdkörper in diese oder jene Körperöffnung steckten und nun deren, womöglich operativer, Entfernung harren, sehr oft auch allein vor sich her sitzende Frauen, mit starrem, leicht verwirrten Blick, ohne sichtbare Verletzung. Vieles liegt im verborgenen. Spekulation. Was ist ihr Schicksal? Heute früh, höre ich die eine zu der anderen sagen, als sie aufwachte, schmerzte ihr Kopf so sehr, dass sie sofort wusste, der seit Jahren in ihrem Kopf leise vor sich hin wachsende Gehirntumor habe nun das Entstadium seines Wachstums erreicht und sie müsse sofort in die Rettungsstelle, bevor sie endgültig, einsam und allein in ihrem Bett und mit aufgeplatztem Schädel das Zeitliche segnen. Die andere nickt anerkennend und erzählt eine ähnliche Geschichte, meint, sie hätte irgendetwas am Herzen, alles unheilbar. Später gehen beide raus und rauchen.

Wirklich schlimm sind die Fälle, die mit dem Rettungswagen oder gar Hubschrauber eingeliefert werden. Gestürzte Alte, deren Knochen brüchig sind und bei einem Sturz nachgaben, Opfer von Verkehrsunfällen, womöglich auch noch Kinder, blutende Gesichter, offene Brüche, irgendwann habe ich genug Leid gesehen, genügend Geschichten erdacht, mir ist schlecht vom Geruch des Desinfektionsmittels, von der stickigen Luft und dem schlechten Kaffee, helfen kann ich hier sowieso niemandem, ich gehe. Ich verlasse die Rettungsstelle in Richtung Park, in dem ich mich beruhige, herunter komme, langsamen Schrittes dem aufgeregten Zwitschern der Vögel lausche, ein paar Menschen spielen mit ihren Kindern Ball oder werfen Spielzeuge für ihre Hunde, es ist mild und angenehm, die frische Luft tut gut, sie schmeckt jetzt ganz frisch und weich. Den Abend verbringe ich vor dem Computer, ich lese Blogs, immer in der Hoffnung, jemanden zu finden, dem es genauso geht, wie mir. Verlorene Zeit, verlorene Welt, Einsamkeit und dann wieder die Stille der Nacht mit ihren Geräuschen, ich bin allein, aber nein, nicht doch, das ist überhaupt nicht schlimm.
 
Do, 11.10.2007 |  # | (825) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: blogosophie


don papp   (11.10.07, 00:11)   (link)  
sie haben mich gerade gut zwanzig jahre zurückversetzt...


bufflon   (11.10.07, 00:23)   (link)  
Sollte ich mir das patentieren lassen? Allerdings, will man das immer?


c17h19no3   (11.10.07, 01:16)   (link)  
so ging´s mir ja, erste große liebe, dann sechs jahre allein, um die wette gefickt, aber nie mit dem kopf oder dem herzen. ich war glücklich allein, arrangierte mich imaginär damit, allein zu bleiben, allein zu leben und zu sterben, vielleicht sehr viel später einmal mit freunden ein haus zu mieten am rande einer großen stadt und gemeinsam alt werden und sich um einander kümmern. bis vor zwei jahren war ich so glücklich, dann hatte ich mich unmerklich auf die suche begeben, und siehe, wurde fündig, wurde gefunden. aber auch gefunden genieße ich es oft, allein zu sein, denn alleinsein fällt leicht, wenn man nicht einsam ist. besonders nachts. ich habe meine besten hausarbeiten nachts geschrieben.











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Letzte Aktualisierung: 02.04.2024, 15:05


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