Nichts Der freundliche Herr Strunz ist ein fleißiger Arbeiter. Mit stoischer Ruhe und unbewegtem Gesichtsausdruck arbeitet er sich durch Papierstapel, liest, stempelt, locht und heftet ab, sein Büro gleicht einer keimfreien Fertigungshalle mit Fließband irgendwo im fernen China. „Was denkst du dabei?“ Diese Frage konnte ich mir nicht verkneifen, als ich ihn kürzlich in seinem Büro besuchte und sein Treiben eine Weile beobachtete. Zuerst staunte ich über die Ruhe und Sorgfalt, die er trotz der offensichtlichen Monotonie seiner Tätigkeit an den Tag legte, wie akkurat er mit den einzelnen Papieren umging, es hätte mich nicht verwundert, wenn er bei seiner Arbeit weiße Handschuhe getragen hätte. Schloss er einen Ordner, veränderte sich sofort sein sonst eher unbewegter Gesichtsausdruck, er sah für einen ganz kurzen Augenblick unglaublich zufrieden aus, vielleicht sogar glücklich und so stellte ich meine Frage, die er, nun wieder mit versteinertem Blick, mit einem einzigen Wort beantwortete: „Nichts.“ Wie, nichts? Kann man nichts denken? Ich fragte noch einmal nach, er lächelte nur und meinte, dass er überhaupt nichts denke, rein gar nichts. Nun war ich noch verwirrter. Bei einer monotonen Arbeit an nichts zu denken, das konnte ich mir vorstellen, aber überhaupt nichts zu denken, das wollte mir nicht einleuchten. Ständig musste ich an etwas denken, kleine Dinge, die schnell an mir vorbei huschten und auch mal verloren gingen, größere Gedankenpakete, die sich zu mir setzten und mich manchmal fürchterlich piesackten, selbst im Schlaf hörte das nicht auf, furchtbar realistische Träume, dunkel oder hell, alles nur nicht nichts. Ich beschloss, ihn weiter zu beobachten, weiter in die Tiefe zu gehen, ihn bis in die letzte Ecke zu verfolgen, sein gesamtes Leben zu hinterfragen, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich verfolgte ihn wie ein Detektiv, nur ohne Trenchcoat, ohne Zigarette, die verwegen im Mundwinkel klebt, ohne Loch in einer verkehrt herum gehaltenen Zeitung. Meine Arbeit begann in seiner Mittagspause, die Strunz mit dem schon bekannten Gesichtsausdruck einleitete. Sein Kollege, der ihm gegenüber saß und sich sonst wenig für ihn interessierte, verschwand eilig in Richtung Keller, um sich dort mit einer Kollegin aus dem dritten Stock in einem abgelegenen Raum zu einem Schäferstündchen zu treffen, verständlicherweise im dunklen, unbeachteten Keller, es wäre für beide sicherlich unangenehm, wenn die Sache auffliegen würde. Eine gelangweilt drein schauende Dame im Nachbarbüro lehnte sich in ihrem abgewetzten Bürostuhl zurück und begann ein scheinbar längeres Telefongespräch mit irgendeiner Freundin, belangloses Zeug, ständig unterbrochen von Gekicher und Gegacker. Strunz streifte sich elegant sein Jackett über und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren aus dem Haus. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als er durch die Straßen ging. Er schaute niemanden an, er schien nicht einmal ein Ziel zu haben, die Augen fixierten keine bestimmten Punkte, erließ sich treiben, im Strom der Massen, ohne ein Teil von ihr zu werden. Er überragte alle mit seiner außergewöhnlichen Körpergröße, so musste er niemanden in die Augen schauen, er schien es auch gar nicht zu wollen. Strunz ging in einen Bäcker und bestellte mechanisch ein belegtes Brötchen, setzte seinen Weg ohne Ziel fort und biss ab und zu von seinem Brötchen ab. Man sah ihm förmlich an, dass er an nichts dachte, seine Bewegungen wirkten mechanisch, der Weg vorgezeichnet, es gab keine Überraschungen, wäre der Gehweg nicht aus Beton, hätte man wohl einen ausgetretenen Pfad erkennen können. Nach einer Weile merkte ich, dass es wieder zurück in das Büro ging, der Kreis schloss sich scheinbar, die Pause war beendet, das Tagwerk konnte fortgesetzt werden. Der weitere Tag glich dem Mittagsspaziergang auf ausgetrampelten Pfaden: Fahrt mit der S-Bahn, scheinbar ohne auch nur einen Bruchteil der Umgebung wahrzunehmen, der tägliche Besuch in einem Solarium, unter dem UV-Bräter schlief er nicht einmal ein, der Gang in die kahle Wohnung, keine Zeitung, keine Zeitschrift, kein Buch, kein Radio und auch kein Fernseher, nichts. Andächtig widmete er sich seinem Abendbrot, machte sich ein paar Brote, die er langsam aß, während er die leere Wand anstarrte, ohne seinen Gesichtsausdruck auch nur einmal zu verändern, wusch er das dreckige Geschirr ab, legte sich auf das Ledersofa und schaute an die Decke, scheinbar an nichts denkend, irgendwann stand er auf, zog seinen ordentlich gefalteten Schlafanzug an und legte sich in sein Bett, um in einem traumlosen Schlaf zu versinken. Tage später besuchte ich Strunz wieder in seinem Büro, schaute ihm noch einmal bei seiner scheinbaren Fließbandarbeit zu und kurz bevor er in seiner üblichen Mittagsrunde verschwinden konnte, fragte ich ihn: „Wenn man dich so beobachtet, könnte man meinen, dass du tatsächlich an rein gar nichts denkst, den ganzen Tag. Bist du eigentlich glücklich?“ „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“ Diese Antwort verwunderte mich und ehrlich gesagt, muss ich seine Aussage bezweifeln.
Wieso? Nun,
zuerst erschien mir der Gedanke, an nichts denken zu müssen, sich von den Wirren der Welt zurückziehen zu können, in gewisser Weise frei von Zwängen zu sein, sehr willkommen. Welch unbeschwertes Leben. Als Dauerzustand erscheint es mir aber abwegig, damit glücklich zu werden. Nun gut, wer an nichts denkt, denkt auch darüber nicht nach, stellt sich diese Frage nicht. Ich, für mich persönlich kann es mir nicht vorstellen, damit glücklich zu sein.
Zugegeben, klingt nach Dauermeditation oder Gehirnwäsche, ich finde es auch sehr suspekt. Aber immer häufiger frage ich mich, ob es nicht doch beneidenswert ist, was geht mich das an, wovon ich nichts ahne. Und ziehen wir nicht letztendlich immer irgendwo die Grenze zwischen zurückziehen und nicht zurückziehen - wir denken ja auch nicht jede Sekunde an das Leid dieser Welt und verdrängen in unseren Glücksmomenten oft den ganzen Rest - wo diese Grenze nun genau verläuft, ob sie weiter oder enger gesetzt ist, wo wird es abwegig?
Manchmal frage ich mich auch, ob das ganze Nachgedenke nicht auch etwas völlig Überzüchtetes ist. Alles
in Maßen, das wäre doch ein schönes Motto. Man muss sich ja nicht gleich in Löcher verkriechen und am Leid der Menschheit zerbrechen. Na gut, ab und zu passiert mir das. Aber nur ab und zu. Ebenso denke ich ab und zu auch mal gar nichts. Beim Streichen eines Zimmers zum Beispiel, dass bei uns auch mal gerne bis in die frühen Morgenstunden geht, denke ich ab einem bestimmten Punkt gar nichts mehr. Befreiend. Als Dauerzustand lehne ich das aber ab.>> Kommentieren Wer es schafft, sich tatsächlich von dem ganzen unnötigen Gedankenballast zu befreien und die Dinge, die man tut und seien sie auch noch so banal, mit ganzrer Aufmerksamkeit und Präsenz zu tun, der ist wirklich ein glücklicher Mensch! Ich schaffe es nur hin und wieder für wenige Minuten. Dann aber merke ich sofort, wenn das Wirrwarr im Kopf endlich mal Still ist, wie mein Atem ruhiger und tiefer wird, sich meine Gesichtszüge entspannen, der ganze Körper entspannt wird und ich einfach glücklich bin. Egal, was für Probleme gerade zu bewältigen sind, der Augenblick ist doch das Einzige was wir wirklich haben, den gilt es zu leben. Ich glaube die Aussage Ihres Kollegen, dass er der glücklichste Mensch auf der Welt sei. Nicht denken zu müssen, bedeutet ja nicht, nichts mehr denken zu können oder zu wollen. Aber man ist Herr über das Geschehen im Kopf, so wie wir ja auch mehr oder weniger Herr über die Bewegungen unseres Körpers sind. Ein
Aspekt, den ich in meine Überlegungen noch gar nicht einbezogen habe. Nichts denken MÜSSEN, aber können und wollen. Danke dafür, das rückt mein Weltbild doch wieder gerader.>> Kommentieren auch mir erscheint es ein idealfall zum glücklichsein, wenn ein mensch an nichts mehr denken MUSS.. >> Kommentieren Mir kommt, mit Verlaub gesagt, Herr Strunz sehr tot vor. Und dass man in diesem Zustand glücklich sein kann bzw. überhaupt weiß, was Glück ist, bezweifle ich stark. Zufrieden, ja, aber glücklich, nein. Um wirkliche Glücklichkeit empfinden zu können, ah, da war das Wort "empfinden" ja auch schon, hat sich einfach reingedrängelt, muss man eben dieses können. Dazu gehört dann auch Licht und Schatten, das eine geht nicht ohne das andere, wir brauchen einen Bezugspunkt, um etwas definieren zu können. Dass man diesen Zustand des Nichtdenkens anstreben kann und - zeitweilig - als sehr angenehm empfinden kann, widerspricht dem nicht. Selbst Meister der Meditation, die einen Zustand an Ausgeglichenheit und auch Glücksempfinden erreichen können, von dem wir nur träumen, üben sich in "wachem Bewusstsein" und "Mitgefühl". Herr Strunz klingt für mich eher nach in Monotonie und Abgestumpftheit.
*zwinker zwinker*
Ja, rotten Sie sich nur zusammen ;-)
Aber ich, ich verteidige den armen Herrn Strunz. Lassen Sie den doch glücklich sein!
Genau. Achso, unten steht das nun. Das neue Layout ist irgendwie respekteinflößend. Wie das beim weiterklicken so wegswusht... wie ne teure Küchenschublade ;-)
Respekteinflößend? Ich find es so schön minmal und ähm irgendwie anders. Aber doch nicht wie ne Küchenschublade. Auch wenn sie teuer wär. Tss.
Mit der Küchenschublade meinte ich nur das swush, dieses wegfaden, wie heißt das denn bloß - jedenfalls nicht das Layout an sich. Das war vorher so heimelig und jetzt ist es mh... moment... glatt-kalt-schick-kristallglasig. Ich meine das positiv, heimelig verängstigt mich eher, da trau ich mich nicht zu kommentieren ;-)
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Letzte Aktualisierung: 03.06.2024, 07:57 Links: ... Home ... Blogrolle (in progress) ... Themen ... Impressum ... Sammlerstücke ... Metametameta ... Blogger.de ... Spenden Archiviertes:
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