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Lost

Bereits am frühen Morgen, als noch Tau das Fenster vernebelte und sich Wolkentürme vor die aufgehende Sonne schoben, als sich das morgendliche Farbenspiel noch im Anfangsstadium befand und auch die Gedanken erst einmal die Dämmerung überwinden mussten, dachte er an eine Welt, die sich andersherum drehte, eine Welt, von der schon seine Eltern träumten, eine Welt, die an diesem frühen Morgen so unglaublich fantastisch erschien, dass er daran fast verzweifelte.

Nie wieder würde er einen billigen Kaffee kaufen.

Soziale Netzwerke interessieren ihn nicht. Er braucht keine sozialen Netzwerke, das funktionierte im realen Leben schon nicht, virtuell würde es zur Katastrophe führen. Eine Scheinwelt. Eine Mischung aus Kontrollfanatikern, überwachenden Überwachungsablehnern, Stalkern, Menschen, die sich für nichts interessieren, außer sich selbst, Menschen, die Sex suchen, ihn aber nie finden werden, Menschen, die vor ihren Bildschirmen verharren, diese anstarren, daran festkleben, während draußen warmer Platzregen gegen die Fenster knallt und es nach feuchtem Staub riecht und nach dem verblühenden Flieder vor dem Schlafzimmerfenster. Die Welt ist eng, in seinem Kopf, im virtuellen Raum.

In einer Schublade stapelten sich Karteikarten, vollgekritzelt mit Notizen, kleinen Skizzen, Schlagwörtern. Mit dreizehn, vierzehn träumte er davon, Schriftsteller zu werden, den großen Roman zu schreiben. Eine fantastische Erzählung. Ein Prinz erobert eine neue Welt, das Schema ist bekannt, dazu wurde schon viel erzählt, geschrieben, geträumt, auch er träumte diesen Traum. Irgendwann machte er sich keine Notizen mehr, irgendwann begann er, den großen Roman zu programmieren, saß stundenlang am Bildschirm und schrieb ihn in einer Sprache, die nur sein Computer verstand, niemand würde mehr lesen wollen, was man auch selbst erfahren konnte, dachte er dabei, denn seine Generation würde einem Videospiel mehr vertrauen, als einem Buch aus Papier und den eigenen Fantasien. Das machte ihn traurig.

Im Schrank steht noch eine analoge Schreibmaschine, die niemand mehr braucht.

Manchmal träumte er davon, in einem Leuchtturm mitten im Meer zu wohnen, um ihn herum nichts als Wasser, schäumende Brandung und sonst nur noch der Himmel und die Sonne und der Mond, die beständig ihre Bahnen ziehen. Einmal in der Woche kommt ein Schiff, gesteuert von einem knurrigen Seemann, mit dem er dann an der Reling steht, mit dem er dann gemeinsam auf das Meer schaut und auf den Himmel, den Horizont, mit dem er dann manchmal über die Welt redet, die irgendwo stattfindet, irgendwo dort, hinter dem Horizont, eine Welt, die verborgen ist, ganz weit weg.
 
Di, 19.05.2009 |  # | (741) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: melancholie



 
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Letzte Aktualisierung: 03.06.2024, 07:57


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