Lauf! Ja, komm her, komm näher, trau dich, vergiss die kommende Dunkelheit, die untergehende Sonne, das vergehende Licht, die langsam über den Boden kriechende Kälte, die sich an deinen Beinen heraufschlängelt, wie eine Schlange mit ihrer gespaltenen, leise zischenden Zunge. Siehst du den Nebel aufsteigen? Feuchte Spinnenetze glitzern im letzten Schein des Sonnenlichts, immer noch wunderbar warm, ein Licht, das dich einhüllt, aber jetzt vergeht und vielleicht nie wieder kommen, sondern unaufhaltsam verschlungen wird, von bitterkalter Nacht, unheimlichen Geräuschen, Schatten, dunklem Rauschen. Irgendwann wirst du die Schreie hören, die dich bis ins Mark erschüttern werden, Schreie voller Angst, die dich dann selbst packen wird und dann fängst du an zu rennen, so schnell du kannst, renne, ja, renne, aber pass auf, dass sich keine Äste in deine Augen bohren, dich schmerzhaft verletzen, dich erblinden und für immer in ewiger Dunkelheit allein lassen, pass auf, pass nur auf. Spürst du den weichen Boden unter deinen Füßen? Dunkle Wasser quillen aus dem weichen Moorteppich, vielleicht ist es ein alles verschluckender Sumpf aus dem dich niemand mehr befreien kann? Jeder knackende Ast, der unter deinen zittrigen Beinen zerbricht, jagt dir einen Schauer über den Rücken, einen Schauer durch deinen bis auf den letzten Muskel angespannten Körper, deine Nackenhaare stehen zu Berge, Gänsehaut überzieht deine wunderschöne weiße Haut, die so makellos ist und rein, die du unter deinen nassen, kalten Kleidern versteckst, so schön, so schön. Du kannst kaum noch atmen, schlucken, musst jetzt stehen bleiben, dich abstützen, an dunklen, feuchten Kiefernstämmen, die scheinbar endlos in den Himmel ragen und dann kommen wieder diese Geräusche, Richtung und Herkunft undefinierbar, sind es Tiere? Menschen? Geister? Ja, vielleicht sind es Geister, die hinter dir her sind, die dich packen wollen, in ihre Höhlen ziehen, um dich zu quälen, dich zu Tode erschrecken, lauf, lauf, ja, lauf nur, aber du wirst es nicht schaffen, nein, denn sie sind schneller als du, sie schweben weiß schimmernd über dir, zwischen den Bäumen und werden sich wie Raubvögel auf deine verängstigte Seele stürzen, sie dir aus der Brust reißen, bei lebendigem Leib, und sie werden dein blutendes, schlagendes Herz triumphierend in den dunklen sternenlosen Himmel halten, dabei markerschütternde Schreie ausstoßen, die Lust der Geister, gierig und geil, ja, lauf nur, lauf, sie werden dich trotzdem holen. Jeder Ast, der sich in deinen Körper bohrt, auf deiner hastigen Flucht durch den immer dunkler werdenden Wald, fühlt sich an wie der Reißzahn eines tollwütigen Raubtieres, das geifernd, Zähne fletschend und wütig knurrend hinter dir her ist, dich einholen wird und in Stücke reißen, zerfetzen, bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln und du wirst sterben, einen qualvollen, einsamen Tod, hier auf dem kalten, feuchten Boden, in der unendlichen Einsamkeit des Waldes, dieser dunklen, undurchdringlichen Hölle und niemand wird dir helfen können, niemand, niemand, nein, irgendwann vielleicht werden sie deine Überreste finden, ein paar Fetzen, abgenagte Knochen, die man von dir übrig ließ, hier, am Schauplatz eines unfassbaren Gemetzels, blutig, grausam, ohne Gnade. Lauf nur, lauf, renne, so schnell dich deine Beine tragen können, lauf, schnell, denn dort hinten kommen sie schon, schwarze Reiter ohne Gesicht auf wutschnaubenden Pferden, hörst du die dumpfen Schläge der Hufe auf dem moosbedeckten Boden, dunkel, bedrohlich, unaufhaltsam, lauf, lauf, lauf, sie werden dich einholen, bei Sonnenuntergang, in der unendlichen Dunkelheit, sieh doch nur, sieh, dort im Westen, das letzte Licht vergeht, renne, lauf, lauf, lauf, denn jetzt kommen sie, immer näher und näher und näher, die wehenden Fahnen flattern im Wind, drohendes Rauschen, lauf, lauf, lauf, dort hinten ist dein Tor zur Freiheit, siehst du es? Ja, dort, eine Lichtung, ein Bachlauf, feucht nach Blüten duftende Wiesen, das Gras knietief und weich, ein paar Rehböcke mit ihren Ricken und darüber ein klarer Sternenhimmel, der helle Mond, alles friedlich und frei, Sicherheit und Leben, kein Blut, keine Geister, keine Raubtiere, keine schwarzen Reiter, lauf, lauf, lauf, nun lauf endlich, schnell, schneller, lauf, sonst werden sie dich holen, lauf, lauf, lauf. (Dieser Text steht im losen Zusammmenhang mit diesem Text, der wiederum mit dem heutigen Tag, wie auch immer man ihn nennen mag, und dem Grundgefühl des kommenden Monats in Zusammenhang steht. Ich glaube, Frau Schlüsselkind könnte ein Lied davon singen, wenn sie denn sänge.)
Und dann feststellen, dass aus dem früheren wunderbar ein schier unglaublich wunderbar geworden ist, ganz plötzlich an übereinanderlegbaren Schablonen zu erkennen und man selbst von der Furcht vor der Vergängnis, den Unwegbarkeiten des Lebens gepackt wird und man jeden Moment, jede Minute, jede Sekunde nutzen müsste, um nichts zu verpassen, zu verlieren. Und dann zählt jede kleine Berührung, jeder Blick, jedes Lächeln, denn dafür reicht die Zeit noch und dann eine nächtliche Erkenntnis, zitternd in ein Notizbuch geschrieben. Komische Jahreszeit, immerhin ein wenig Frühling im Herbst, Licht in der Dunkelheit, Farbe im grauen Einerlei.
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Letzte Aktualisierung: 03.06.2024, 07:57 Links: ... Home ... Blogrolle (in progress) ... Themen ... Impressum ... Sammlerstücke ... Metametameta ... Blogger.de ... Spenden Archiviertes:
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