Alltag, fast jeden Tag Jetzt hat sie doch die letzten kleinen Scheine bekommen, die alte Dame an der Klagemauer, die nur einen winzigen Tick schneller war als ich. Für mich bleibt nur wieder der große Schein übrig, ein Fünfziger, da wird der Bäcker morgen früh sich wieder freuen: "Hasse nich noch größer?" Sorry, die Fünfhunderter waren grad aus. Schon damals, in der guten alten De-Mark-Zeit, wie so manche sagen würden, holte ich im selben Rhythmus die "Fuffis" ab, an der Klagemauer, alles wird teurer, trotzdem genießt man das Leben, solange kein Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. "Mach hinne, die Bahn kommt. Jetzt, gleich." - Warum hetzt man die ganze Zeit durch die Gegend, als würde der Teufel hinter einem her sein? Bekomme ich die Bahn jetzt nicht, ist das auch egal, in zehn Minuten kommt die nächste. Man könnte sich in Ruhe an die Haltestelle stellen, das Buch auspacken, ein wenig darin blättern, einen guten Eindruck machen, sich an das Geländer stellen und träumen, den Wolken beim vorbeiziehen zu schauen, in sich kehren und zu sich finden. Nein, man hetzt von Haltestelle zu Haltestelle, rennt den freien Sitzplätzen hinterher, als ob man nicht auch einmal eine halbe Stunde stehen könnte, rempelt herumstehende Menschen an, lässt sich anrempeln, eine komische Atmosphäre, doch hier kommen die meisten und besten Gedanken. Das ist doch absurd. Die Tür geht auf und man erkennt sofort die drei nervigsten Ausdünstungen der anwesende Fahrgäste, die heutige Fahrt wird eine Qual, olfaktorisch gesehen. Würde es mit Klimaanlage besser sein? Der erste Duft kommt ganz klar aus ganz linken Ecke. Ich würde sagen, Vollbad in Hugo Boss, ich kenne das, ich war auch mal so, in meinem pubertären Wahn badete ich förmlich in toll riechenden Essenzen, fühlte mich unglaublich erwachsen, unwiderstehlich und kam erst auf den Boden der Tatsachen zurück, als mich eine angebetete Dame darauf hinwies, dass ein Vollbad in Hugo Boss auch keinen schöneren Menschen aus mir mache. Schade. Die zweite Duftnote ist etwas dezenter, kaum zu erkennen und schwierig einzuordnen. Ich tippe mal auf Billig-Polyester-Anzug mit entsprechendem Hemd und Krawatte, für 25 Euro bei Kick, die Träger irgendwo und gut verteilt in der Bahn. Die meisten können dafür nichts. Männer, die in solchen Plastiktüten rumrennen, wissen das wahrscheinlich gar nicht, ich wüsste es auch nicht, die Sache mit dem automatisch rinnenden Schweiß und dem gleichzeitig entstehenden stechenden Geruch. Auch trage selten Anzüge, was mich in einigen Situationen schon zum Rebellen gemacht hat, der ich gar nicht bin. Diesen Geruch kann man überleben, wenn man weit genug vom Epizentrum entfernt ist, ich bin es und freue mich. Der dritte Geruch, unangenehm und schwer zu beschreiben, erinnert mich an meine Großmutter, die ihre letzten Jahre in einem Dämmerzustand zwischen wach und weggetreten fristen musste, kein schöner Anblick, der langsame und unaufhaltsame Verfall, die immer öfter wiederkehrenden Aussetzer, die ständigen Verwechslungen von Namen und Gesichtern, Verwirrung und am Ende wünschten ihr alle eine sanfte Erlösung. Traurige Erinnerungen, nicht schön, aber sie sind immer da, niemand wird vergessen, auch wenn er schon längst nicht mehr da ist, man freut sich über die schönen Stunden, die man gemeinsam verbracht hat, die Qualen die man zusammen gelitten hat, es brennt ein wenig in der Brust. Es gibt noch viele andere, versteckte Gerüche, tausend andere kleine Erinnerungen werden geweckt, ich muss umsteigen, zur nächsten Bahn hetzen, einen Sitzplatz ergattern, das Buch auspacken und die nächsten Seiten verschlingen, dann bin ich in meiner Welt, ich höre nichts, rieche nichts und sehe nichts anderes, als wäre ich ganz allein in der Bahn, ganz für mich allein. (An dieser Stelle vielleicht ein kleiner Tipp zum Thema "Gerüche" und so: Patrick Süskind, Das Parfum.) Der Abendhimmel meint es nicht gut mit uns, dass kennen wir, trotzdem sind wir bester Laune, er kann uns nicht ärgern, wir ziehen unsere Stiefel an und durch, selbst wenn es jetzt regnen und stürmen sollte, wir werden trotzdem unseren Spaß haben. Ein paar Getränke, tiefe Blicke in die Augen, Ernsthaftigkeiten und Lächerliches, ein leises Lachen, ein paar Grinser und am Ende eine vielleicht unnötige Frage: "Bist du glücklich?" Die Antwort ist einfach und trotzdem ein wenig überraschend: "Ja und noch glücklicher, wenn Deutschland Weltmeister wird." Dann wird das aber nichts, mit dem Alltag, vorerst.
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