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Bittersweet

JJ, dachte Win, den werde ich anrufen, da geht noch was.

„Hey, ich glaube, du hast nen riesiges Problem.“ sagte JJ kurz bevor das Gespräch mit Win beendet war. Er hat recht, dachte Win, ja, hat er. Es ist ja nicht nur so, dass dieses sinnlose Abgehänge hier absolut nervtötend ist, nein, das alles bringt einen an den Rande des Verstandes. Und darüber hinaus. Es fühlte sich an wie ein Gemisch aus heißem Kleber und weißer Watte. Der Boden von heißem Kleber bedeckt, gerade noch so weich, dass man die Füße ganz leicht in die knöcheltiefe Suppe hinein bekommt, aber nicht mehr hinaus. Nie wieder. Das Zeug klebt fest und ist dabei immer noch irgendwie elastisch, man kämpft und kämpft, kommt aber keinen Schritt vorwärts, überhaupt kommt man nicht mehr von der Stelle, ist gefangen, in Zeit und Raum und irgendwann verharrt man in Bewegungslosigkeit oder verfällt in Panik, Angst und dann greift der Fluchtreflex, Panik und Fluchtreflex und nicht mehr wegkommen, Stillstand. Und während die Füße im klebrigen Sumpf der Perspektivlosigkeit versinken, steckt der Kopf in einer dicken Watteschicht, man ist blind und taub und verliert jeglichen Kontakt zur realen Welt, alles verschwimmt, verschwindet hinter milchig-weißen Fasern, es gibt kein „da draußen“ mehr, nur noch den Wattekokon, ein weiches Verließ, bittersüß und ohne Ausweg, man ist eingesponnen, gefangen genommen, wird gnadenlos gefoltert und am Ende, ja, am Ende sterben erst die am Boden festgeklebten Beine und später dann der wattierte Kopf ab und man selbst verschwindet in der letzten Sekunde im Nichts. Es stimmte, Win hatte ganz offensichtlich ein riesiges Problem.

Irgendwann machte sich Win aus dem Staub, eine Flucht nach vorn, dachte er sich, nur weg von diesem verwunschenen Ort, dieser Hölle auf Erden. Draußen wehte ihm kalter Wind ins Gesicht, vermischt mit dichtem Nieselregen, sofort überkam ihn das Gefühl, am Leben zu sein und er öffnete die Knöpfe an der Kragenleiste seines Mantels, um noch mehr Kälte an den gefühllosen Körper zu lassen, Kälte, die diesem wieder Leben einhauchen sollte, die ihn spüren ließ, das noch nicht alles verloren war, dass er das Schattenreich immer noch rechtzeitig verlassen konnte. Die Wohnung war ruhig und verlassen. Liz war nicht da, noch unterwegs, ach nein, fiel es ihm ein, sie kam erstmal gar nicht wieder, unterwegs mit den Kids und er war auf sich allein gestellt, ganz allein, Einsamkeit, Stille. Kein Problem für ihn, er fühlte sich wohl, allein, in der kalten, verlassenen Wohnung, ohne Stimmen, ohne Radio, ohne Gewusel, das um ihn herum passierte, nur er, der dann gerne eine Stunde regungslos im Sessel saß und die Kronen der Bäume vor dem Fenster betrachtete. Nur diesmal nicht. Ein kaltes Zittern durchlief seinen angespannten Körper, er sehnte sich nach Gemeinsamkeit, nach Leben, nach Gewusel und Krach, warum gerade heute, fragte er, aber so ist das immer, wenn man auf dem Weg nach unten ist, ja, dann geht gar nichts mehr, dann kann auch keiner mehr helfen, man war auf sich selbst gestellt, musste da irgendwie durch, durch diese dunklen Gedankenwelten, Phantasien und Realitäten, ganz allein, so war das schon immer in seinem Leben. Egal, dachte er dann und ließ sich erst einmal eine Badewanne ein.

Später dann saß Win vor dem leeren Bildschirm seines Notebooks und dachte nach. Meine Güte, du bist wahrscheinlich verstrahlt, dachte er sich, seit Jahren sitzt du Stunden, Tage, Wochen vor diesen Bildschirmen und denkst, starrst, schreibst und liest, das kann nicht gut sein, auf die Dauer, tagsüber leere Worthülsen, Zahlen, ein paar belanglose Fakten, die sowieso keinen interessieren, alles ohne großen Sinn und später dann zuhause der große Literat, haha, immer auf der Suche, ja, wonach eigentlich? Das passte alles nicht zusammen. Du steckst zu tief in dir drin und noch tiefer in der Scheiße, dabei solltest du glücklich sein, zumindest, wenn die Tür aufgeht und das Paradies beginnt, hier in diesen jetzt so leeren und stillen Räumen, solltest du, ja, solltest du. Aber du bist es nicht. Weder glücklich, noch zufrieden. Er goss noch Wein in das leere Glas, einen billigen, schweren Rotwein, der langsam seine Gedanken vernebelte, jetzt noch ein Telefonat mit Liz und dann kommt die Nacht, einsam und allein wird sie sein, Träume stecken schon unter der Decke, im Kissen, in der Matratze, lass die Glotze aus, sagte er sich, lass sie bloß aus, sonst läuft das alles wieder nicht, sonst kommen sie wieder, kleine und große Monster und morgens dann herzzerreißende Schreie und erschrockene Gesichter. Und wer wird dann für dich da sein?
 
Fr, 16.01.2009 |  # | (2028) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schreib mal wieder



 
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