Berliner Weihnachtsmann Im dunklen, grauen Morgengrauen, das seiner schwermütigen Betonung auf Grauen alle Ehre machte und auch wunderbar den derzeitigen Gemütszustand des Herrn S. widerspiegelte, schlurfte jemand die Oranienburger Straße entlang, den Herr S. auf den ersten Blick für einen ganz normalen Penner hielt, der aber dann, auf den zweiten Blick, als ein alter, abgefuckter Weihnachtsmann zu erkennen war. Der Berliner Weihnachtsmann. Er saß nicht stolz auf einem in coca-cola-rot geschmückten Rennschlitten, durch die kalte, klare Nacht rasend, gezogen von starken, schönen Rentieren, während im Hintergrund lustig leichter Schnee rieselte, er hatte auch keinen coca-cola-roten Mantel an, frisch gebügelt und gestärkt, ohne Löcher, ohne Makel, um erwartungsvolle Kinderherzen zu erfreuen und Erwachsenen das Gefühl zu geben, die Welt, in der sie leben, sei an dieser oder jener Stelle vielleicht doch noch ein wenig heil. Nein, der Berliner Weihnachtsmann ist ein abgefuckter, alter Penner, dessen Bart vom vielen Nikotin dunkelgelb verfärbt ist und dessen Mund übelsten, glühweinroten Gestank verströmt, ein Gestank, der jedem Gegenüber sofort den Atem und dazu noch jegliche Hoffnung auf ein besseres Leben nimmt. Ungewaschen und besoffen kam er also im morgendlichen Grauen daher, den Sack prall gefüllt, mit alten Klamotten, die er aus einem der vielen aufgebrochenen Altkleidercontainer mitgenommen hatte, Geschenke für die Freunde, die mit müden, versoffenen Augen im Imbiss an der Friedrichstraße hocken oder am Kudamm oder in irgendeiner abgefuckten Dönerbude dieser kalten, einsamen Stadt, die irgendwie zu erhellen er hoffte, um die alten, abgefuckten Typen herauszureißen aus Lethargie, Elend und Langeweile. Lediglich ein melancholisch vor sich hin klingendes Glöckchen ließ Herrn S. erahnen, was für ein Typ hier die nasse, kalte Straße entlang stiefelte, eben kein ganz normaler Penner, sondern der Berliner Weihnachtsmann, der mit jedem müden Schritt eine traurige Melodie erklingen ließ, die sich anhörte wie eine Mischung aus „Kling, Glöckchen, kling“, „Jingle Bells“ und einer billigen Coverversion des amerikanischen Weihnachtshits „White Christmas“, vorgespielt in einer der vielen bunten Werberadiostationen der Stadt, die mit Gewinnchancen und anderen Lügen um Hörer bettelten, und der Herrn S. mit glühweinhaltigem Atem und glasigen Augen schon jetzt eine fröhliche Weihnacht wünschte. Dann begann es zu schneien.
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(geborgt bei flickr)
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