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Abfall für jeden

Dass S. in der gestrigen Nacht im volltrunkenen Zustand ins Bett gefallen sei, stellte sich am Ende nur als Gerücht heraus. Natürlich hatte man ihm dies ohne weiteres zugetraut, dachte man doch immer noch an diesen einen Abend vor genau zehn Jahren zurück, ganz bewundernd ob der Trinkfestigkeit und Respektlosigkeit gegenüber dem eigenen Körper, jugendliche Grenzenlosigkeit. Diese Zeit war aber längst vorbei und S. nun ein ganz anderer Mensch. Nachts stand er nicht mehr auf, um sich Zigaretten anzustecken und den angespannten Körper zwecks Energieaufladung in die laue Sommernachtsluft zu stellen, nein, inzwischen stand er nachts auf, um Kopfschmerztabletten in kaltem Wasser sprudelnd aufzulösen und eine Sammlung spröder Gedanken zu vervollständigen. Hallo, Leben.

Für ihn selbst war das ein Anschlussprojekt zum Jahrhundertbestseller "Abfall für alle" von Rainald Goetz, das er natürlich "Abfall für jeden" nannte. Ein Arbeitstitel. Er hatte sich vorgenommen, proletarische Alltagslyrik mit einem spezialintellektuellen Überbau zu versehen und so eine schwer verständliche Kryptik entstehen zu lassen, die den gesellschaftlichen Verfall des Alltags spiegeln und zum grundlegenden Denken anregen sollte. Eine künstliche Idee. Schnell stellte er dabei fest, dass Menschen nur noch in zwei Kategorien einzuteilen sind: Dumm und weniger dumm. Das verunsicherte ihn, den Menschenfreund, zutiefst, vor allem auch, weil ihm gesammeltes Unverständnis für seine Ideen entgegenschlug. So zog er sich in seine einsame Gedankenwelt zurück, innerlich verlassen, äußerlich allerdings recht sexy, eigentlich. Trotzdem konnte er nicht mehr so ohne weiteres Grinsen, Körperlichkeit war ihm nur noch manchmal wichtig und überhaupt Sex völlig übertrieben aufgeladen, vor allem medial, aber verständlich, überlagerte dieser ursprünglichste Trieb doch das Elend des Alltags, beim Orgasmus vergaß man sozialen Verfall und die Boshaftigkeit von Macht, alles reduzierte sich auf ein paar hübsche Bilder im Kopf und den Austausch von Körperflüssigkeiten, alles ganz Prima, eigentlich.

Hallo, Leben, sagte darauf hin die K., die ihn zurück ins Bett zog, in das er sich, entgegen anderslautender Gerüchte der Gemeinde, nun völlig nüchtern und ernüchtert, hinein legte und sich der Liebe hingab, die ihn den ganzen Mist, der ihm das Hirn zerkochte, weil er das alles gar nicht wirklich fassen konnte, diese triefende, stinkende Gedankesuppe, vergessen ließ, für eine gewisse Zeit zumindest, bis er wieder aufstand, gegen halb vier vielleicht, um eine Kopfschmerztablette in kaltem Wasser sprudelnd aufzulösen und wieder ein paar Gedanken in sein bereits zur Hälfte mit unsauberer Handschrift gefülltes Notizheft zu schreiben. Abfall für jeden.
 
Mi, 23.04.2008 |  # | (437) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: melancholie



 
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