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Mittagspause

"Das Internet als großer Jahrmarkt der Eitelkeiten? Na und?"

Mit trotziger Miene setzte sich Win auf die leere Parkbank und schaute in Richtung See. Entspannung machte sich in seinem Gesicht breit, als er sich eine Zigarette ansteckte, ein Ritual in der Mittagspause, das musste sein, zu kaum einem anderen Anlass verspürte er den Drang, eine Zigarette zu rauchen. Win saugte den Rauch langsam in sich auf, verharrte kurz und atmete ihn ganz langsam wieder aus. In solchen Momenten verlangsamte sich der stetig fließende Strom von Gedanken und Ideen in seinem Kopf und ordnete sich, manchmal waren es wilde Stromschnellen, manchmal nur kleine, langsam vor sich hin plätschernde Bäche, da waren sie irgendwie immer. An diesem Ort hatte er seine Ruhe, hier konnte er Selbstgespräche führen, ohne das ihn jemand davon abhalten oder ihn dabei unterbrechen könnte. Der Job war meilenweit entfernt, dieses ständige Gedränge, Zahlenkolonnen, Anrufe ungeduldiger Kollegen und Kunden, die Chefin, die gern auch mal mit wippendem Fuß in der Tür stand und demonstrativ auf die Uhr schaute. Dies hier war eine andere Dimension, hier konnte er seinen Gedanken freien Lauf lassen, sollten doch die anderen in der nach altem Fett stinkenden Kantine versauern.

"Meine Güte, was sich manche so aufregen. Regt sich eigentlich jemand auf? Liz manchmal, ja, und andere auch. Schaue ich mir aber ein paar schlechte Fernsehproduktionen an, dann bleibt mir doch für ein 'mediales Erlebnis' nur noch die Flucht ins Internet. Natürlich kann ich am Fernseher umschalten, allerdings bleibe ich dann nur noch am einzig erträglichen hängen: Dokus. Nein, nicht diese Reality-Soap-Dokus, gekünstelt und gespielt, mit erzwungenen Situationen für erzwungene Emotionen, nein, echte Dokumentationen. Letztens z. B., die über das ehemalige Ostpreußen, ach ja, Polen im herbst, grau und melancholisch, oder Kirgisien oder meinetwegen auch ein Sielmann-Tierfilm, die kann man sich ohne schlechtes Gewissen, ohne bitteren Nachgeschmack, anschauen. Der Rest ist nicht besser als Stefan Raab. Eher schlimmer. Lesen, dass ist noch eine wirkliche Alternative, allerdings ist das auf die Dauer ein einsames Geschäft, ähnlich wie fernsehen, deshalb ist es nicht schlecht, wenn man mal vom Konsumenten zum Produzenten wird. Denk ich mir."

Selbstgespräche sind Wins Mittagspausengeschäft, Zwiegespräche mit sich selbst, allerdings geht es nicht soweit, dass er sich selbst mit "Hey, was ich dir noch erzählen wollte..." ansprechen würde. Manchmal dachte er sich Geschichten aus, die er irgendwann mal aufschrieb - aus einem ihm unbekannten Grund konnte er sich seine Geschichten auch ohne Notizbuch merken, wer weiß wie lange das noch so gehen kann - manchmal philosophierte er vor sich hin und manchmal arbeitete er an Ideen, die er mit dem Label "irgendwann, wenn ich Zeit hab" versah. Wann irgendwann war, wusste er allerdings nicht so genau, bisher war dieses "irgendwann" eher ein "nie".

Seine neuste Idee war ein Podcast als eine Art Radiosendung, von, mit und über Blogger und anderen Leuten, die im Internet publizieren. Gestern hatte Hannes, der Dichter, bei ihm angerufen und gefragt, was mit dieser Idee denn nun sei, auch andere, mit denen er schon kurz darüber gesprochen hatte, fragten ab und zu nach, so richtig war er sich allerdings noch nicht über die Idee im klaren. Hier, angesichts der halb heruntergebrannten Zigarette in der leicht zittrigen Hand, der schnatternd und wild mit den Flügel schlagend startenden Enten und ein paar Joggern im Rentenalter (heute mal die Pazifisten, ohne Stöcke), machte er sich weitergehende Gedanken, vielleicht landete diese Idee diesmal nicht im Korb mit der Aufschrift: "irgendwann, wenn ich Zeit hab", diesmal fühlte es sich ganz gut an.

"Man könnte das doch wie in einer Radiosendung machen. Keine One-Man-Show, kein reines Vorlesen eigener Texte, besser, es lesen ein paar Leute verschiedene Texte oder Gedichte, eigene, die von anderen, es wird miteinander diskutiert, über Literatur im Netz, Entwicklungen, Möglichkeiten, Probleme, vielleicht werden bisher wenig beachtete Perlen ausgegraben und ans Licht gebracht. Viel braucht man nicht, Technik, klar, das muss sein, aber vor allem Leute, die mitmachen, Ideen einbringen, die Sache ins Laufen bringen, schöne Stimmen haben. Wie wäre es mit so einer Art Reich-Ranicki, der ein bisschen Reibung in die Sache bringt? Der größte Vorteil wäre doch, dass alle mitmachen können, man braucht keine Gewinnspiele, um auf sich aufmerksam zu machen, man braucht nur die richtigen Leute."

Es schossen die Gedanken wie ein Wasserfall durch seinen Kopf, Win entwickelte die Idee, baute sie aus, machte sich Skizzen, die er gewissenhaft irgendwo im brummenden Schädel abspeicherte, heute abend würde er Hannes, den Dichter, anrufen, mit ihm sollte er noch einmal reden, ein paar Dinge klären, die Sache musste nicht irgendwo zwischen den Gehirnwindungen verstauben. Gerade als er sich ausnahmsweise für heute eine zweite Zigarette gönnen wollte, klingelte sein Telefon. Die Chefin war dran:

"Sag mal, wo steckst du eigentlich? Wir brauchen dich hier, schnell."

Klar, immer wenn es spannend wird.
 
Do, 23.11.2006 |  # | (667) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schreib mal wieder



 
Mi, 22.11.2006 |  # | (540) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: ?



 
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