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Haltestellenkino

Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck biss eine junge Frau, in blauer Jeans mit einem eng anliegenden ärmellosen T-Shirt, mit offenen Haaren und einer übergroßen Sonnenbrille, in einen riesigen Burger, darauf bedacht, nicht in das ihn unhüllende und schützende Papier zu beißen, an der Seite rutschte ein wenig Tomate mit einem größeren Klecks Soße darauf heraus und drohte, plötzlich herunter zu fallen. Mit der Hand bugsierte sie das Stückchen in den Mund und leckte sich langsam mit der Zunge die klebengebliebenen Soßenreste von den Fingern und den fettigen Lippen. Neben ihr stand eine ebenfalls junge, abgemagerte Frau im Sommerkleidchen, mit hohlen Wangen, leicht angefettetem Haar und Beinen, die an lange, dünne Partyspießchen erinnerten. Sie ekelte sich offensichtlich, allerdings kann ich mir vorstellen, dass sie gerade wirklich keine appetitlichen Gedanken hatte. Sie rauchte, wischte sich nervös Strähnen aus dem Gesicht und versuchte eisern, ihren Blick von dem vor ihren Augen stattfindenden Burgermassaker abzuwenden. Es gelang ihr nicht ganz.

Zwei Männer mit einer ganzen Ladung alter Taschen und fast auseinanderfallender Koffer, die nur noch durch braunes Klebeband zusammen gehalten wurden, stiegen in die Straßenbahn ein. Der erste hatte einen riesigen Kopf, war ausgemergelt, die Wangen gelblich und hohl, wenn er lachte sah man, dass ihm die Schneidezähne fehlten. Er trank ständig aus einer noch halbvollen Ouzoflasche und gab ab und an laute Kommentare im breitesten sächsischen Dialekt von sich. Sein Begleiter hatte schütteres graues Haar, ebenfalls schlechte Zähne, ungepflegte Hände und trank andächtig billiges Bier. Beide umgab eine ordentliche Wolke süßlicher Alkoholausdünstung, ein wenig angereichert mit käsigem Schweißgeruch, zum Glück war das Fenster offen. Der Ouzo-Trinker erklärte in regelmäßigen Abständen seinem Kumpanen die gerade durchquerten Stadtbezirke, ab und an lachten sie beide über Witze, die ich allerdings nicht immer verstand, und tranken aus ihren Flaschen.

Vorne im Wagen saß eine ältere Dame, korpulent, mit weißem Gesicht und leuchtend rot gefärbten Haaren und grauem Haaransatz. Sie trug eine sommerlich geblümte Bluse und eine viel zu enge 7/8-Jeans, die nicht nur ihre Fettpolster über den Hosenbund herausfallen ließ, sondern ihre wenig bewundernswerten Waden und Füße freilegte. Die weißen Waden waren fleischig und von dicken Adern durchsetzt, die Füße knorrig und ungepflegt und in abgelatschte Flip-Flops gepresst. Mit Schweißperlen auf der Stirn löste sie ein Sudoku in der Zeitung, zwischendurch blickte sie traurig aus dem Fenster und stöhnte dabei ganz leise.

Die Bahn fährt stetig ihre Runden, hält meist zur vorgegebenen Zeit an den Haltestellen der Route, Leute steigen ein, sie steigen aus, ein ständiges Kommen und Gehen, ab und an wird um einen Sitzplatz gestritten, um offene oder geschlossene Fenster, versperrte Gänge, ausgefaltete Zeitungen, deren Enden einem oftmals in der Nase bohren, zu laute MP3-Player, es wird gelacht, geflirtet oder stumm vor sich hin geschwiegen, fremd gegangen, Verbrechen geplant, vergessen oder bereut und wenn man Glück hat, wird man nicht beim Schwarzfahren erwischt.
 
Sa, 16.09.2006 |  # | (483) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 
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