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Zwischentief, hoch

Scheint morgens die Sonne, ist die Laune abends immer noch gut. Das Motto des Tages. Außer zwei guten Spielen bot die WM bisher nur dürftige Kost, die meist gut bezahlten Spieler wirken träge, müde, ängstlich, satt, bahnt sich da etwa eine kleine Herbstdepression an? Schöner Novemberregen kürzlich beim Spiel der italienischen Heißsporne, denen man ihr südliches Temperament sofort ansah. Hossa, war das ein Tanz. Da können sich die Brasilianer aber noch eine Scheibe von abschneiden.

Samba tanzend stürze ich mich aus dem Bett und blicke wehmütig ins Kinderzimmer zwo. Ausgeflogen, der kleine Vogel, ohne flügge zu werden. Demnächst dann der tägliche Ausflug in die Schule, aber der ist doch noch so klein. Ist er das? Noch schnell ein kleiner Hackentrick mit einem im Bad herum liegenden Ball - in dieser Hütte liegen in jedem Zimmer Bälle, man hat hier wohl so eine Art Ballmanie - dann gehts los in den Alltag.

Die beste Erfindung seit Erfindung der Taschenlampe war die Erfindung des Smartphones. Man hat das Internet immer dabei, super. Seitdem lese ich kaum noch Bücher. Schlecht. Brauche Urlaub, um endlich wieder Bücher zu lesen. Brauche Meer. Auf der Terrasse stehen und der Liebsten sagen, dass man ans Meer fahren sollte. Gebongt. Wir verstehen uns. Wäre auch blöd, wenn nicht. Nicht.

In der Bahn sitzt mir Hermann Otto Solms gegenüber, in kurzer Hose, ich zitiere den neuesten Spiegel: Aufhören! Der kapiert das nicht, Deutschland ist am Ende. Das Beste, was Angela Merkel noch passieren kann: Deutschland wird Fußballweltmeister. Die Massen wären wochenlang betäubt, sie könnte die Steuern erhöhen und niemand merkelte etwas davon. Außer natürlich den schlauen WM-Ablehnern, die rechtzeitig das Land verlassen. Übrig bleibt der biertrinkende Schlandmob, aber wie soll der denn Steuern zahlen?

Natürlich wird das so nicht kommen. Dann müsste ich mir eine Deutschlandfahne auf den Hintern tätowieren lassen. War das wirklich eine echte Wette? Nein, dann lieber Holland, eigentlich ja die Niederlande. Wenn auch die aufhören, Nichtangriffsfußball zu spielen. Aber im Prinzip ist das doch auch egal. Meer, wie schön wäre jetzt Meer. Und endlich wieder ein gutes Buch.
 
Mi, 16.06.2010 |  # | (577) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

Was das Sparpaket für Sie bedeutet

Das Wetter ist gut, es regnet nicht mehr. Menschen mit Deutschlandfahnen am Auto frühstücken auf dem Weg zur Arbeit schnell noch im Cockpit ihres Wagens, ein Schluck Kaffee aus der Alutasse, isoliert, vom Wurstbrötchen abbeißen, dazu die besten Hits aus den 80iger, 90igern und 00igern und die neuesten Hits gibt es gratis dazu. Allerdings nicht ganz, man muss unerträgliche Radiosprecher und Dauerwerbung ertragen. Zwischendurch die Nachrichten: Das Wetter ist gut, dem Land geht es schlecht. Alle müssen jetzt sparen, also vor allen Dingen die einen. Natürlich, die Idee, an Leistungen für Menschen zu sparen, die eigentlich gar nichts haben, ist grandios. Man nimmt ihnen nichts weg, man gibt ihnen einfach noch weniger. Damit ist allen geholfen. Merkel und Westerwelle lachen in die Kamera. Hahaha. Lebt eigentlich Maggie Thatcher noch?

Wenigstens ist das Wetter gut und die deutsche Fußballnationalmannschaft supi in Südafrika gelandet. Der Weltmeisterschaftsauftaktsparty am Freitag steht also nichts mehr im Wege, danach vier Wochen Fußballpanik, vergesst doch einfach alles, jetzt wird erst einmal gefeiert. Mein Vater sagt immer "Brot und Spiele machen das Volk gefügig, so ist das heute immer noch". Trotzdem schaut er sich die Spiele an und fällt auch manchmal vom Sessel. Wenn es spannend wird. Brot und Spiele. Das passt aber nicht mehr, siehe oben. Weniger Brot für die Bedürftigen, ist das überhaupt noch christlich? Ich kenne mich damit leider nicht aus, ich könnte Pionierlieder singen oder auch Arbeiterlieder aus dem Agit-Prob-Buch, das in irgendeiner Kiste seiner Entdeckung durch vielleicht irgendwann auftauchende Nachfahren harrt, bei religiösen Dingen bleib ich lieber außen vor. Wobei ich wieder beim Fußball wäre.

Kürzlich traf ich einen rigerosen Fußballablehner, der leider keine verwertbaren Gegenargumente vorbringen konnte. Argumente wie "Zwanzig Mann die einem Ball hinterher rennen, wie bekloppt ist das denn?" oder "Die Fans sind allesamt saufende, rechtsradikale Radaubrüder" sind so lebensfern wie dumm, die Wahrheit liegt irgendwo hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen. Mit Fußball beschäftigen sich genauso dumme wie kluge Menschen, man muss sich einfach nur mal zu einem F-Jugend-Turnier begeben, Spieler, Trainer und zuschauende Eltern beobachten und man wird nichts anderes sehen, als uns, die Gesellschaft. Macht natürlich kaum ein Mensch. Später sprachen wir dann über das Wetter, das sich endlich sommerlich entwickelt und zum morgendlichen Picknick am See einlädt, man könnte sich ja dort und dort treffen, ein bisschen im Schatten rumsitzen und etwas essen, während die Kinder, nun ja, Fußball spielen?

Das Wetter ist gut, die Hosenbünde werden weiter und die Gürtel enger, nicht bei allen, nur bei manchen, sicher den falschen. Merkel und Westerwelle lachen und sind über etwas froh, worüber, weiß keiner so genau. Miroslav Klose will explodieren, keine Ahnung, wie das aussehen soll, hoffentlich macht er dabei keinen großen Krach und den Thomas Müller dreckig, der kann nämlich Fußball spielen, obwohl er aussieht wie ein Exfreund der Liebsten. Auch so ein Kapitel.

(Randzonenblogtypisch wird es hier in den nächsten Wochen sicherlich nur um Fußball gehen, von dem ich keine Ahnung habe. Behaupte ich immer.)
 
Di, 08.06.2010 |  # | (434) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

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Internet, Meckerbude und Produktjubelstube. Entweder die Menschen meckern ohne Ende oder sie feiern scheinbar wertvolle Produkte und verdienen dabei noch ne Mark. Oder zwei Euro. Aber das interessiert mich nicht. Mich interessieren Geschichten. Stories. Schicksale. Dabei ist es mir völlig egal, ob man das Kind "Netzliteratur" oder "Tagebuchexhibitionismus" (Oliver Jungen, FAZ) nennt. Auch das interessiert mich nicht. Bedeutungen, Schall und Rauch, Subjektivität. Dem einen bedeutet nur ein Thomas Mann etwas, der andere stirbt bei dem, vor Langeweile. So ist das. Nicht anders.

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Männer mit Pilotenkoffern. Je größer der Koffer, umso weniger Inhalt. Blicken gehetzt durch die Gegend, an den Haaren klebt noch Kopfkissen, am Kinn blutet ein kleiner Schnitt von der morgendlichen Rasur. Schnell, schnell, zur Tür gerannt, gehetzt, gespurtet, raus aus der Bahn, hinein ins Büro und abends nach Hause, den Koffer auspacken, wenn überhaupt etwas drin war.

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Wie man trotz Smartphone einen Geburtstag vergisst.

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Ich habe einen Freund, der ein Jahr lang Pfeife rauchte. Junge Menschen, die Pfeife rauchen, tun mir leid. Ich kann das ja verstehen, Nikotinsucht und ein Stengel, an dem man sich festhalten kann, keine Frage, aber junge Menschen die Pfeife rauchen? Tun mir leid. Nur alte Männer rauchen Pfeife.

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Der Mann, der einen Kaugummi ausschließlich mit den Vorderzähnen kaute, den Kaugummi immer wieder durch den Überbiss quetschend und mahlend, der Mann, der aus dem Kaugummi kleine Bläschen formte, die er immer und immer wieder platzen ließ und dabei Geräusche machte, die mich vom Lesen abhielten, der Mann, der Kaugummi kaute, mit platzenden Bläschen Leute vom Lesen abhielt und ständig auf dem Touchscreen des Smartphones herum wischte, als müsste er tonnenweise Fettschlieren des vergangenen Tages weg putzen. (Moderne Zeiten.)

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Nein, Geschenke ausdenken ist nicht mein Ding. Jedenfalls nicht, wenn es nicht im mich selbst geht. Egoist, wahrscheinlich.

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Wie unangenehm es dem unentspannten Menschen ist, wenn er irgendwie angeflirtet wird. Wie er versucht auszuweichen, zu entfliehen, nur weil er denkt: Die kann doch jetzt nicht mich meinen. Überhaupt: Ein Leben voller Verkrampfungen, wo kommt das her, wie wird man das los? Man kann sich ja nicht ständig betrinken.
 
Mi, 21.04.2010 |  # | (618) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

Zeitungslädchen

Etwas, das mich tatsächlich verwirrt, ist die neue Besitzerin des seit Jahren regelmäßig besuchten Zeitungsladens zwischen Bäcker und Fleischer, die so ganz anders ist, als die leicht intellektuell wirkenden Starkraucher, die vorher Zeitungswaren, Lottoscheine und Tabakprodukte über die Theke reichten und dabei immer ein bisschen mürrisch wirkten, als würden sie die Arbeit in ihrem eigenen Laden nicht mögen. Typisch berlinerisch. Jetzt steht dort eine solariumbraune Fastblondine mit schlecht lackierten Fingernägeln, Glitzerstein in Zahn und Dekolleté, die munter mit Selbstbauzigaretten und Boulevardzeitungen um sich schmeißt und dabei gar nicht mürrisch, sondern fröhlich, fast glücklich schaut. Verwirrende Veränderung.
 
Mi, 31.03.2010 |  # | (483) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

Geheimer Ort

Durch das Viertel streifen und geheime Orte erkunden. Sich selbst geheime Orte ausdenken, die zu erkunden sind: Sieh doch hier, zum Beispiel, du läufst die alten Gleise entlang, vorbei an den schönen Häusern, dann vorbei an den weniger schönen Häusern, immer weiter, bis du an die selbst gezimmerten Schuppen kommst, ein kleines Stückchen Favela mitten im grausigen Berlin, darin hausen wohl auch ab und zu Menschen, mit großen, hässlichen und laut bellenden Hunden und gegenüber entsteht ein überdimensionales Industrieprojekt, laut und staubig, voller Gewinn und Verlust, während dazwischen, zwischen den brüchigen Schuppenhütten und dem gewinnbringenden Industrieprojekt alte Gleise dem Rost zum Opfer fallen. Du gehst vorbei, im Sonnenschein des aufsteigenden Frühlings, und kommst an ein kleines Flüsschen (das eigentlich ein Entwässerungsgraben ist), das zu einem See führt, in dem Blesshühner und Enten baden, er sieht noch sehr kalt aus und ein wenig schmutzig, ein kleiner, geheimer Ort, ein unbeobachtetes Versteck, ein Platz von dem niemand weiß, außer dir und mir und in der Ferne hört man gedämpft die breite Straße und du denkst: Das ist einer dieser Orte, an dem man seine Kindheit verbringen möchte.

geheimer ort
 
Di, 23.03.2010 |  # | (440) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

1 Woche Belanglosigkeiten

Am Montag mit schmerzenden Halsschmerzen beim Arzt gesessen, Zeitung gelesen. Eine bekannte Zeitung. Eine Zeitung, die ich oft lese, auch in Wartezimmern von Ärzten, in die ich gern meine eigene Zeitung mitbringe, um nicht Focus, Bunte oder Super Illu lesen zu müssen oder irgendein Werbeblättchen der Pharmaindustrie. In dieser Zeitung etwas über ein Buch gelesen, das ich nicht kenne, dessen Inhalt aus einem anderen Buch stammen soll, das ein Blogger geschrieben hat, von dem ich allerdings schon einmal las. Beim Lesen des Artikels über die besondere Inspirationsübung der Autorin wieder daran gedacht, warum ich Buchkritiken nicht mag. Grundsätzlich.

Außerdem den 4. Blogjahrestag verpasst.

Dienstag bis Donnerstag im Archipel Gulag (1) gewesen. Ich erspare mir eine Buchkritik und gehe auch nicht davon aus, dass Solschenizyn sich irgendwo besonders inspirieren lassen musste. Allerdings interessierte mich dieses Buch mehr, als irgendein gehypter Roman über die Postmoderne oder was auch immer. Unterhaltung kann man allerdings nicht erwarten, eher Alpträume.

Am Freitag endgültig festgestellt, zum Clan der Langsamstdenker zu gehören. Während andere schnell und präzise tollste Ideen präsentieren können, lege ich meine Hand ans Kinn und denke. Manchmal monatelang. Das ist heutzutage nicht gut, das weiß ich, man muss twitterschnell und facebookpräzise sein, um in der heutigen Welt überleben zu können, ich bin es nicht. Und trotzdem lebe ich noch. Auch gut, muss ich sagen. Nur etwas langsam, manchmal auch verschlossen. Mmhh.

1 Woche Schnee, übrigens.

Weitermachen.
 
Sa, 13.02.2010 |  # | (632) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

Übergang

Ja, der Übergang von virtuell auf analog funktioniert am Ende so: Man betritt den abgedunkelten Raum, der am 16. Dezember um diese Uhrzeit überhaupt nicht abgedunkelt sein müsste, weil die Erde eben gerade nicht so zur Sonne steht, dass einem diese um halb sechs ins Gesicht scheinen wird. Man checkt Mails und Blogs und all diese zeitraubenden Dinge der virtuellen Welt und fragt sich jeden Morgen, warum man aufsteht und diese grundsätzlich unnützen Dinge checkt, also inspiziert, Morgenappell sozusagen, während andere noch im warmen Bett liegen und von schönen Dingen träumen. Schießt man sich wohl selbst ins Bein. Auf jeden Fall muss das Wetter-Widget gecheckt werden, es könnte ja sein, dass irgendwo in der Ferne Blizzards durch die Gegend streifen, um einen beim Verlassen der Hütte gnadenlos zu überrumpeln, dass man vielleicht eine dicke Mütze braucht oder doch eher die Badehose, in den Zeiten der Klimaerwärmung ist alles möglich. Leise rieselt der Schnee, behauptet das hypermoderne, bunte Wetter-Widget und man nimmt das so hin und pellt sich an, für einen ganz normalen Dezembertag. Und dann tritt man heraus in die weichende Nacht und riecht schon diese frische, kalte Schneeluft, man spürt, dass die Welt heute in Watte gepackt ist und dann macht man sich auf den Weg und sieht die kleinen weißen Kristalle fallen, weich und zart und kalt hüpfen sie einem auf der Nase herum und dazu hört man auch noch Musik aus der virtuellen Konserve und in einem drin wird es ganz warm und wohlig, weil man selbst unverbesserlicher Romantiker ist, der auf Schneegestöber unter Natriumdampflampen unglaublich steht und gar nicht anders kann, als diese Realität schön zu finden. An der Kurve stellte sich dann heraus, dass die Akkus vom Fotoapparat alle waren. Bleibt also nur das Gefühl des Romantikers beim Durchstapfen des ersten ernst gemeinten Schneefalls, den das bunte Wetter-Widget im abgedunkelten Zimmer angekündigt hatte.
 
Mi, 16.12.2009 |  # | (558) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

Fast food

Wir hätten wohl doch lieber in einen dieser meganeuen In-Läden gehen sollen, die "Gorilla" oder "Nouvelle Kantine" heißen, statt in dieser vietnamesischen Chinaimbisssimulation im Einkaufszentrum an der Ecke - "Zur Glutamathölle" - anzulanden. Denke ich und wundere mich über das gesalzene Brennen auf der Zunge. Hier gibt es Sushi, Döner und andere chinesische Spezialitäten und man kann gewiss sein, dass nur die beste Qualität, schonend und mit gekonnter Hand zubereitet, mit exotischen Gewürzen und viel Liebe vom chinesischen Chefkoch höchstselbst am sorgfältig dekorierten Tisch kredenzt wird. Kann auch sein, dass dies ein Trugschluss ist, wie so vieles im Leben schön geredet wird, was eigentlich unmöglich ist. Leider treibt der Hunger einen zu solch unkultivierten Maßnahmen (alternativ hätte man auch auf einem Miniaturweihnachtsmarkt speisen können) und die vermeintlich knappe Zeit, die man lieber im Bett liegend und Geschichten erzählend verbringen will. Und, ganz wichtig, über dem Bett hängt die bunte Lichterkette, die überhaupt zur Grundaustattung kindlicher Weihnachtsträume gehört. Nun denn, man soll den lieben Kleinen ja nicht jeden Wunsch von den Lippen ablesen, geschweige denn erfüllen, aber wenn man dann in ihre leuchtenden Augen schaut, ist es wie mit den lächelnden Babys, die eine ganze Nacht hindurch geschrien haben: Es ist alles vergessen.
 
Mi, 02.12.2009 |  # | (463) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

O du fröhliche

Ein Gedicht, ein Lied, die Adventszeit einzuläuten, dann aber keine Spur von Besinnlichkeit, nein, auch die Vernunft bleibt fern vom Fußballgeschehen, denn doof bleibt doof, wie wir Jungphilosophen schon in der Adoleszenz feststellten, da helfen auch keine Pillen. Das gilt für sämtliche Menschen, die einem an diesem ersten Adventssamstag der vorweihnachtlichen Shoppingsaison begegneten, halleluja. Meiden Sie die Öffentlichkeit, man kann es nicht oft genug sagen. So viel Dummheit, die in diesen 17-18 Stunden relativen Wachseins ertragen werden musste, kein Wunder, dass sich sämtliche Rückenmuskeln verkrampften, um den Inhaber selbiger mit schrecklichem Kopfschmerz zu plagen und verbissenen Gebissen. Leider, leider wurde dem Antrag auf nächtliche Ruhe nicht stattgegeben, im Gegenteil, er wurde abgelehnt und die Schlaflosigkeit mit der Pflege der teuren Fußböden versüßt, die der Nachwuchs mit Essensresten bespie, warum auch immer. Vermutlich eine Form von Aufgeregtheit. Später dann, die Sonne schien, vermute ich, saß man beisammen und sprach über gestern, heute, morgen, trank Kaffee und sogar Wein und begann sich zu vergnügen, aber natürlich sollte es nicht sein, an diesem Wochenende, dem 13ten, möchte man fast sagen. Blut und Tränen, man kennt das auch schon, und wenn man dann die Schwester Sowieso von Dannunddann wieder erkennt und die immer selben Gesichter im Wartesaal der Rettungsstelle sitzen sieht, also Gestalten mit den immer selben Gesichtern, ohne ihnen ihr vermutliches leiden aberkennen zu wollen, dann ist man froh, wenn man nach einer halben Stunde wieder in die Sonne darf und sich betten und ruhen, auf dass das nächste Vorweihnachtswochende noch viel mehr Spaß bringt. Und Freude.

[Aber man will ja nicht meckern.]
 
Mo, 30.11.2009 |  # | (415) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 

1989

1989, ein beknackter Jahrgang. Man musste in Nachrichten sehen, die man eigentlich nicht sehen durfte, wie Panzer Menschen überrollten und erst kommentierten eingeschworene Genossen dies mit einem "Recht so!", hegten später aber doch Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Überfahrens sich meinungsäußernder Menschen. Schließlich waren es Menschen, die dort gemetzelt wurden.

Schon das Frühjahr begann beknackt, mit häuslichen Streitigkeiten, man kannte das ja aus Filmen, wenn Mann und Frau seelisch auseinanderdriften und junges Fleisch sich zwischen alteingesessene Liebende stellt. Der pubertierende Heranwachsende war damit natürlich überfordert, kam gar nicht klar, mit diesem verzweifelten Lärm, dem keifenden Gelärme, mit den wüsten Beschimpfungen, dem subtilen und offenen Terror der sich immer weiter verlierenden Eheleute, saß zwischen Baum und Borke, im Schwitzkasten der Scheidungsanwälte.

Du liebst mich doch, als Kind muss man ja ständig Liebesbekundungen ausstoßen, denn was bleibt denen denn noch, wenn die Liebe gegangen ist, genau, das Kind, um dessen Liebe es sich scheinbar zu streiten lohnt. Ha, denkt dieses sich, nicht mit mir und läuft davon, innerlich. Und so kommt der Sommer, der Sommer 1989, der letzte Sommer eines scheidenden Landes, der letzte Sommer einer Kindheit, der letzte Sommer von allem möglichen. Man machte plötzlich Urlaube, die früher Urlaub waren, man wanderte auf Gipfel und lag dort an Stränden, mit Marienkäfern übersät und am schönsten waren immer noch die Initiationsrituale im Ferienlager: Die ersten selbst gekauften Zigaretten. Endlich etwas Beständiges und viel blauer Dunst. Und dann ging der Sommer wieder, man kehrte zurück und stellte fest, dass der einzige Wunsch, den man sich drei Wochen lang wünschte, der Traum, der einen drei Wochen lang erfüllte, nicht in Erfüllung gegangen war, nein, nein, es kam viel schlimmer.

Also hinfort ins Brandenburgische, eine Flucht aufs Land, weg von diesen erwachsenen Idioten, das mögen sich auch viele gedacht haben, die dieses Land verließen, alle hatten ihre Gründe, den real existierenden Zuständen durch Flucht zu entkommen, sie ein für alle Mal verschwinden zu lassen, selbst zu verschwinden. Untertauchen, im kalten See, der 1989 das letzte Mal klar war, denn ab 90 begann das große Fischsterben und die Versumpfung der ehemals blühenden Landschaft, aber das war im Sommer 89 noch gar nicht abzusehen. Durch Wälder reisen, ganz allein, die absolute Einsamkeit in riesigen Kiefernwäldern kennen und lieben lernen, seit dem sich nach dieser Einsamkeit, dieser Stille sehnen und in der Ferne ein Fluß, auf dem ein paar Schiffe durchs Land ziehen, nie wieder würde ein Sommer so sein.

In Prag, in Budapest, überall sammelten sich Menschen, um zu gehen, in den Städten wurden Stimmen laut, man bekam das doch mit, das blieb doch nicht verborgen, selbst die Eingefleischtesten merkten wohl, dass hier etwas den Bach runter ging, eine Idee nur noch Makulatur war und nun zwangsläufig erneuert wurde, erneuert werden musste. Männer in Lederjacken, die um einen Hauseingang herum lungerten, ein Mann kommt aus dem Haus und wird in einen bereit stehenden Lada gezogen, geschubst, geprügelt, das alles geht ganz schnell und lautlos, geübte Häscher, die wussten, was sie taten, man selbst wusste nicht, was dort vor sich ging, aber man spürte: Es war nichts Gutes.

Und dann dieser Feiertag im Oktober, irgendwo da draußen zogen junge Menschen mit Fackeln die Straße entlang, um dem scheidenden Greis irgendeine Ehre zu erweisen, ein Feuerwerk wurde losgelassen und ein paar Straßen weiter trieb man die unwilligen Arbeiter und Bauern zur gemeinschaftlichen Verhaftung zusammen, sah man Tränen in den Augen derer, die wussten, was kommen wird, aber nicht auf die Straße gingen, vielleicht weil sie Angst vor dem Morgen hatten? Die Überzeugten zweifelten noch an den schallenden "Wir sind das Volk" - Rufen, aber wie wollte man die noch ignorieren?

Diese Wende kam viel zu schnell, die Dinge liefen viel zu schnell ab, als Zwölfjähriger hatte man ja schon mit sich selbst zu tun, wie sollte man da noch diese tiefgreifenden Weltveränderungen mehr als nur zur Kenntnis nehmen? Und dann, am 11. November, der Schritt in eine fremde Welt, durch die aufgebrochene Mauer auf die andere Seite, von der die einen behaupteten, dort lebe der Klassenfeind, während andere die Freiheit dort priesen, auf den Straßen roch es ganz anders und nirgends war ein Klassenfeind zu entdecken und man nahm die, die man liebte an die Hand, führte die Hände der Liebenden zusammen und wanderte an Orten vorbei, die als "alte Heimat" bezeichnet wurden und irgendwie stellte sich Glück ein, zum Jahresende, der lang geträumte Sommernachtstraum ging in Erfüllung und das Jahr endete mit happy end.

(Fragment eines subjektiven Eindrucks.)
 
Mi, 04.11.2009 |  # | (594) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 



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Letzte Aktualisierung: 03.06.2024, 07:57


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