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Aus einem stinknormalen Leben

Der Morgen ist wieder einmal verschneit. November: Schnee. Dezember: Schnee. Januar: Schnee. Februar: Schnee. Das ist doch auch irgendwie normal, im Winter, nehme ich an und schon im Oktober sagte ich ihr, als ihre Haare noch im lauen Herbstwind wehten und die Sonne uns ins Gesicht schien und ein anstrengender, aber doch auch schöner Tag zu Ende ging, dass dieser Winter ganz bestimmt ein richtiger Winter wird, also nicht so ein Popelwinter wie in den letzten Jahren, sondern einer mit Schnee und Eis und Kälte den ganzen lieben langen Tag und noch viel mehr Kälte in sternenklaren Nächten, einer Kälte, die in jeden Winkel kriecht und heftigen Grippewellen und kalten Füßen, denn alles andere wäre doch wohl eine Überraschung. Ich sollte mich mit solchen Prophezeiungen zurück halten, viel zu oft werden sie wahr. Ein Ende der allgemeinen, abgrundtiefen Krisen, die inzwischen schon wieder einen beunruhigenden Grad an Normalität erreicht haben und deshalb gar nicht mehr zu größerem Auf- und Erregungsgehabe in durchschnittlichen Bevölkerungsschichten führen, so wie es stellenweise gefordert wird, kann ich allerdings auch nicht prophezeien, das könnte mir doch gar keiner mehr bezahlen, die Billiarden sind ja sowieso schon weg.

„Ein FAZ, eine Spex und einen Berliner Kurier, bitte.“

Wie immer höflich beim Zeitungsdealer, der gar kein Zeitungsdealer ist, sondern ein stinknormaler Tante-Emma-Laden-Mann, ein Kleinstunternehmer, der in der Zeit der sagenhaften Lottojackpötte zum Lottoscheich des Viertels aufgestiegen ist, ohne je selbst spielen zu müssen, weil Lottospieler kleine Süchtel sind, das sagt ja selbst die Lotto-Gesellschaft, die deshalb auch eindringlich vor der Droge Lottoschein warnt, und ansonsten von fleißigen Rauchern, Zeitungslesern und naschenden Kindern lebt. Scheinbar ganz gut. Er schaute ein wenig komisch. Warum schauen Sie so komisch, fragte ich, er wusste es nicht.

„Keine Zigaretten heute?“
„Nö, lassense mal, das ist doch nicht gut für die Lunge und das Herz und außerdem habe wieder dieses Reißen in der Schulter, Schulter-Arm-Syndrom, da ist mir selbst der Glimmstengel zu schwer und Zeitung lese ich am liebsten auf dem Klo, da kann ich sowieso nicht rauchen.“

Der lachte. Die FAZ ist natürlich keine Zeitung fürs Klo, sondern für den Ohrensessel, den ich leider noch nicht besitze, ich will aber einen. Irgendwann werde ich irgendwo einen ersteigern, auf so einer Auktion für alte Möbel, wenn ich mal Zeit habe, jetzt aber nicht. Dazu brauche ich allerdings noch ein Bücherregal, aber kein normales Bücherregal, sondern eine Kommode mit Glastüren, die habe ich mal auf einem Foto mit Orhan Pamuk gesehen, auf dem Foto saß der Schriftsteller in seinem Schriftsteller-Zimmer und las und hinter ihm stapelten sich unsortierte Büchermengen in einer alten Kommode mit Glastüren, ohne große Schnörkel und Verzierungen und in genau diesem Moment wusste ich, dass auch ich so etwas brauche, für mein Altherrenzimmer, das ich mir einrichten muss, wenn ich ein alter Herr bin. Oder auch schon früher.

Papa, fragte der, der sich an meiner Hand festhielt, als wir den Weg von der U-Bahn zum Olympia-Stadion liefen, spielen die heute auch die Nationalhymne? Nein, sagte ich, das ist heute weitgehend international, heute können nämlich Deutsche, Italiener, Franzosen, Brasilianer, Ukrainer und so weiter Tore schießen, die ganze Welt also, das ist doch toll, irgendwie. Ja. Später dann, Ostkurve, die Sonne ging dann langsam unter und um uns herum lautes Uffta-uffta-tätärä und so weiter, das war schon verrückt. Diese ganzen Menschen, die mit einem herum stiefelten, eine wilde Mischung aus blau-weiß und weiß-rot und in der U-Bahn laberte so eine komische Tante mit einem Schal um den Hals, auf dem ein graues Porträt Phillip Lahm prangte, von asozialen Hertha-Fans, Dorfklub und überhaupt gäbe es ja nur DIE eine wahre Mannschaft, Blafasel, und ich dachte: Genau, deswegen will ich damit nichts zu tun haben, wegen dieser vorverurteilenden Dummheit, dieser Scheuklappenwelt und diesem ganzen bierseligen Gegröle, aber später dann trotzdem aufgesprungen und gejubelt und der, der sich an meiner Hand festhielt dann auch und alle waren irgendwie glücklich, als die Sonne unterging und die Massen das Stadion langsam verließen.


[Dazu noch Sehnsucht nach dem Meer und Marko Fürstenberg hören.]
 
Di, 17.02.2009 |  # | (404) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: reality blogging



 
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