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Und jetzt ein Text: Uniformierte, alles dabei. Anzüge, jede Farbe, dazu Aktentasche, Aktenkoffer, Aktenrucksack, Aktenrolli. Fehlt nur noch der Aktenschrank, der Aktencontainer, das Aktenarchiv, riesige Gebäude, aus der Hosentasche gezaubert und ganz am Ende, zum Schluss dann, der Shredder, der alles dekonstruiert, um es Wochen, Monate, Jahre später wieder dem üblichen Papierkreislauf zuzuführen. Komische Welt. Manchmal stehe ich so rum, wie außen vor gelassen, gelassen, nicht dazu gehörend und nur Beobachter. Geht aber nicht, als Mensch. Als Mensch ist man immer mitten drin, im Schlamassel. Recht hilfreich: Das Portishead-Portrait in der Tasche und die unregelmäßige Reihe: Digitale Evolution. (Spex) Nervös am Handy rumspielen, das passt alles noch nicht. Draußen: Sonne, es ist schwül, eine Reihe wartender Taxen, Glas, viel Glas und innen drin, warm eingepackt, rüttelsicher, der Gedanke, etwas ganz, ganz anderes machen zu wollen.
 
Fr, 30.05.2008 |  # | (376) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Mal Frohsinn verbreiten

Seid keine Netz-Neandertaler!

In der Bahn: Menschen. Versteht sich von selbst. Rechts eine Frau, liest "Feuchtgebiete", sieht aber nicht so aus. Gegenüber ein Mann, Jogginganzug, liest eine Boulevardzeitung, keine deutsche, Kosovoderso. Links daneben eine junge Dame, Pornobrille, siebenachtel Hose, sieht gut aus, schöne Stimme, telefoniert. Ich auch, schon wieder. Und dann.

Und überhaupt und sowieso, man sollte über dieses oder jenes etwas schreiben, einen kurzen Absatz, eine Randnotiz oder auch nen Essay, über Kläranlagen, über Kleingärten, über Mütter mit Kindern, über Väter mit Kindern, über Kinder mit Eltern, über Menschen ohne und mit irgendwas, über Moral, über melancholisches Mischgemüse und über ein paar Miesmuscheln, die auseinanderfielen und von Möwen gefressen wurden. Allein, es bringt nichts. Aufregungstsunamis versanden in den dichten Sandbänken der Bedeutungslosigkeit, der endlose Strom der Meinungen spült jede Individualität hinfort, überzieht sie mit grau-braunem Schlamm, stinkend, warm, ohne Nährwert und obenauf, ganz oben auf der Welle, der perfekten Welle, reitet der Dieter Bohlen, der weiß Bescheid, von Tötensen bis ans Ende der Welt und vielleicht auch zurück.

Zeit, den Nihilisten auszupacken, einfach mal den Apfelbaum umhauen, statt ihn zu hegen und zu pflegen, aber bitte, keine Gewalt. Nutzlosigkeiten. Winzigkeiten. Nichts. Liegt die Welt in Trümmern, auch dann wird noch gejammert, dieses ist blöd, jenes ist Scheiße und das alles sowieso unglaublich doof. Früher trug ich Markenschuhe und Markenunterhosen, von Hugo Boss, aber bitte so, dass der Schriftzug zu sehen war, schlüpfrig, schlüpfrig, heute kann ich mit Masterabschluss, Auslandspraktika und fließend kirgisisch glänzen und im Assessmentcenter lüge ich mich interessant, als wäre ich wer, und wenn es dann endlich, so mit Mitte Vierzig, um die Wurst geht, ist es dann auch egal, wenn sich das Peter-Prinzip plötzlich ganz schnell erfüllt. Ende der Fahnenstange. Witzigkeit kennt keine Grenzen, trallalla, das kann ich nicht, bin oft auch Griesgram, kann ich mit leben, ich muss keinen lieben, aber ich kann, ja, ich kann und dem Dr. House will ich sowieso nicht das Wasser reichen, bin ja auch kein Mediziner. Und überhaupt und sowieso, frisches Wasser auf die Mühlen der Bedeutungslosigkeit, hier und jetzt und berühmt wird man damit garantiert nicht, zum Glück, vielleicht, denke ich noch weiter und jetzt ein Bier und noch ein Bier, der Frohsinn kennt heut' mal wieder keine Grenzen.

[Erst heute habe ich festgestellt, dass rote Schuhe nicht per se hässlich sind, schon gar nicht an einem schlanken Damenfuß. Diese Feststellung birgt allerdings Konfliktpotenzial.]
 
Mi, 21.05.2008 |  # | (361) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Farbig

Grau. Farblos. Und dann das Cubix am Alex. Eine große Leinwand, darauf ein Berlinale-Dauerprogramm. Nee, denke ich, auch damit kann ich nichts anfangen und mir fällt Benn ein, der über Kunst und Kulturbetrieb sprach, das passt hier irgendwie. Diese Differenz zwischen Künstlern und dem Trara, das gern um sie herum veranstaltet wird. Ich sehe das Kino, die Bilder auf der Leinwand (es ist wohl eher so ein großer Flatscreen, aber Leinwand kommt mir passender vor) und ich sehe die uninteressierten Gesichter der Menschen an der Haltestelle. Gierig schauen sie nach einer Bahn, sie wollen unbedingt einen Platz ergattern, sitzen, schwatzen, ich höre sie allerdings nicht, denn ich schaue in das aufgeschlagene Buch auf meinen Knien oder aus dem Fenster und forme in Gedanken einen Blogbeitrag. So ist das inzwischen.

Vor dem Cubix sitzen, stehen Interessenten. Sollen sie, denke ich. Sollen sie begeistert sein, diskutieren, toll finden oder ablehnen, dafür ist Freiheit ja da. Nicht meine Welt. Ist das Ignoranz? Dummheit? Hat sich inzwischen Kleingeist in meine Hirnwindungen geschlichen? Wie sieht überhaupt meine Welt aus? Eingeschränkt. Zeitlich, sowieso. Und sonst? Ich komme ins Grübeln. Da gibt es nicht viel. Jedenfalls aus Sicht der Erlebnisgesellschaft, mein Leben ist kein Adventurepark, immer alles neu, neu, neu. Und immer mehr, viel mehr. Neu sind vielleicht die Anwandlungen der Kinder. Oder der Liebsten. Eine Krankheit vielleicht. Schwer oder nicht schwer? Väter sollten immer besorgt sein. Überhaupt, Vater, immer noch komisch. Was wird von einem erwartet? Und dann: Ärgern die dich in der Schule? Nein? Dann ist gut, denn sonst hätte ich wohl eingreifen müssen. Würdest du das wollen? Ein schwieriger Punkt. Diese und andere wichtige Überlegungen lassen nicht viel Platz für mehr. Stundenlange Besuche irgendwo, wasweißich, Galerien, Bibliotheken, schlendern und langsam sein. Ärgerlich, manchmal, und dann ab und an eine kleine Depression. Und dann stürzt man sich in Arbeit. Erledigt sogar solche, die man wochenlang vor sich hin schob, vor allem unangenehme. Ein gutes Gefühl stellt sich ein, du hast etwas getan. Wenigstens das. Ein wenig Farbe füllt inzwischen das Bild und die Bahn rauscht weiter über die altbekannten Schienen.
 
Mi, 13.02.2008 |  # | (449) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Bahnfahrt

Ein Frau in einem dunklen Mantel drängt sich durch die Straßenbahn, sie trägt eine große eine Tasche, ein kleiner, aber offensichtlich sehr schwerer Koffer, den sie angestrengt durch den Gang bugsiert, macht ihr ein schnelles Durchkommen schwer, kleine Schweißperlen sammeln sich auf ihrer Stirn. Sie ergattert einen Platz in einer der vorderen Reihen mit Zweiersitzen und besetzt gleich beide freien Plätze. In der Hand hält sie eine Fahrkarte, sie ist sichtlich erleichtert, atmet leise säufzend aus und vertieft sich in eine Zeitung. Später wird sie von schlecht drei gelaunten Kontrolleuren in blauer BVG-Uniform, die sich betont laut redend um sie scharen, aus der Bahn geworfen, im wahrsten Sinne des Wortes. Alles sehr unfreundlich, unhöflich, es wird mit Polizei gedroht, ein Wille zur Dienstleistung, Hilfsbereitschaft gegenüber der verunsicherten Frau ist nicht erkennbar. Die Fahrkarte sei von der S-Bahn, die scheinbar nicht zur BVG gehört, folglich hätte sie diese abstempeln, "Entwerten!" müssen, sie tat es nicht und nun versteht sie die Welt nicht mehr, sie spricht nur gebrochen Deutsch. Niemand sagt etwas, alle schauen betreten zu Boden, sie steigen aus, draußen regnet es, verloren steht sie da, zwischen den aufrechten Kontrolleuren, wieder ein Opfer gefunden, Strafe muss sein. Die Bahn fährt weiter und die vier an der Haltestelle stehen gebliebenen rücken in weite Ferne.

Vor mir sitzt ein kleiner verschrobener Mann, der versucht, durch seinen großen Kopf viel zu kleine Lesebrille eine Fernsehzeitschrift zu lesen, Formel-Eins-Sonderteil, ab und zu beugt er sich weit nach vorn, mit dem Kopf in den Gang, um die kleinen Bildunterschriften erkennen zu können, vorbeiströmende Menschen reißen ihn dabei fast vom Sitz, ständig blättert er vor oder zurück, er wirkt verwirrt, spricht leise mit sich selbst, selbstvergessen.

Im hinteren Teil des Wagens stehen drei junge Mädchen, kurz vor dem pubertären Höhepunkt, ihr Alter schwer zu schätzen. Es geht um Checker, Ärsche, MTV und Klingeltöne, jedes zweite Wort ist "Alter!", Klingeltöne werden ausgestauscht, Jamba hat jetzt eine Flatrate, höre ich, demnächst werde ich wohl irgendeinen Musiksender einschalten und die Welt nicht mehr verstehen. Altertum.

Ich kämpfe mit meinem Buch, das Buch mit mir, die letzte Nacht war kurz und voller Unterbrechungen, es gab Zeiten, da konnte ich mich ins Bett legen und augenblicklich einschlafen, diese scheinen nun vorüber, der Schlaf gewinnt, das Buch verliert, unglaublich müde schlafe ich mit hängendem Kopf ein.
 
Mi, 21.03.2007 |  # | (793) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Gebügelter Rücken, ohne Falten, hart und unbeweglich, wohl zuviel Stärke, das ist die Schwäche. Aus dem Bett gefallen und den Mussolini getanzt, butterweiche Morgenluft, wohltuende Stille, unterbrochen vom Gesang der Amsel, Frühlingsboten, nach Meer roch es nicht. Mittelmaß, ein ganze Bahn voll, zwei Frauen steigen ein, sie riechen nach Zwiebeln, frischem Döner, missmutige Gesichter um einen herum, eine schaut wie diese Hotelerbin, wenn sie beleidigt ist. Mittelmaß und man gehört dazu, die Norm steht fest und wenn man ehrlich ist, weicht man kaum davon ab. In Träumen kann man fliehen. Eine Insel, in südlichen Breiten, fern und leer, weißer Sandstrand und eine kärgliche Hütte unter stahlblauem Himmel, das Meer brandet, in der Ferne ein Fischerboot, hüpft auf und ab, heimliche Idylle, auch hier gilt das Mittelmaß, in einer anderen Qualität, wenn man nicht ab und zu auf die Felsen steigen würde, an denen die Wellen laut und mit weißer Gischt zerbrechen, um sich dem warmen Naß der Brandung zu stellen und in die Ferne zu schauen, es gäbe keinen Unterschied mehr. Möwen überschauen diesen Ort, abgehoben, frei. Draußen, in der abfallenden Dunkelheit, wanken drei Männer, verwelkt in der Nacht, mit hängenden Augen, in den Händen fett triefende Pizza, sie stolpern über den kalten Boden, der Glanz des gestrigen Abends scheint vergangen. Die Insel, erträumter Zufluchtsort, Träume und Realität vermischen sich, in der Bahn riecht es muffig, dazu eine Mischung aus Kaffee und Zeitungspapier, draußen das Meer, türkis, warm und erfüllend, ein Tag wie jeder andere, Krokusse blühen in allen Farben, vielleicht noch ein wenig Schnee, die Erinnerung an den weißen Strand der fernen Insel.
 
Fr, 16.02.2007 |  # | (576) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Morgenlaune

(Enthusiatisches Großstadtleben auf dem Weg zum famous blogger.)

Ich erwache durch das rumpelnde Geräusch von Mülltonnen, die lautstark durch den Flur gezogen werden. Es ist fünf Uhr und ich verfluche diesen Kerl. Seit knapp einem Jahr geht das so, jeden zweiten Morgen werden die Mülltonnen per Hand auf die Straße befördert, dort stehen sie rum, bis die Müllabfuhr gegen Mittag kommt und sie leert, irgendwann nachmittags werden die geleerten Mülltonnen wieder lautstark auf den Hinterhof gezogen, doch dann stört das kaum jemanden. Als er mit seinem Treiben anfing, vor knapp einem Jahr, ging es gegen sechs los, vor sechs Monaten kam er gegen halb sechs, nun ist er um fünf schon da und mir scheint es, als würde er jedes Mal lauter werden. Ich kann nicht mehr einschlafen, stehe auf und schleppe mich müde ins Bad. Haare richten, die schlechten Träumen aus den Zähnen puhlen und einmal kräftig durchspülen, ich rasiere mich nicht, betrachte mich im Spiegel, die Spuren des Verfalls halten sich in Maßen, nein, keine tiefen Falten, keine Krater, ein paar ordentliche Hautunreinheiten, ausgetrocknete und abgenutzte Haut. Du wirst alt, sagte sie kürzlich, ich lachte, natürlich, die Zeit lässt sich nun mal nicht aufhalten, aber alt werden, was heißt das schon?

Draußen schlägt mir immer noch dieser kalte Wind entgegen, kleine, feine Regentropfen fliegen durch die Luft und treffen mit ihrer nassen Kälte jede unbedeckte Hautpartie. Nun ja, es hätte kälter sein können. An der Haltestelle stehen jeden Tag die gleichen Leute. Selbe Zeit, selber Ort, immer dieselben komischen Gesichter, müde, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Die Bahn ist leer, wer treibt sich auch schon rum, um diese Zeit, in dieser Kälte, in dieser Dunkelheit. Ich. Ich treibe mich rum, drehe die Lautstärke meiner Lebenserhaltungsmaschine etwas lauter und schaue mir, wie immer, die Gesichter der anderen an. Ich bin ein Voyeur, ich ergötze mich am Anblick anderer, nein, es ist geht nicht um das körperliche, in den meisten Fällen jedenfalls, es geht um den Menschen an sich, um das, was hinter der Maske der Gesichter stecken könnte. Dort sitzen zwei müde dreinschauende, Restalkohol transpirierende Bauarbeiter in dreckigen Klamotten, es scheint, als wollten sie jedes bekannte Klischee erfüllen, sie lesen Bild, gemeinsam. Neben mir strickt eine ältere Frau ganz vertieft vor sich hin, vor mir schläft ein Typ mit glatt rasiertem Schädel, den er an das kalte Fenster gelegt hat, bevor ich meine Musik anstellte, hörte ich dieses dumpfe Röhren aus seinen Kopfhörer, Dumpfsinn am Morgen, das stumpft ab. Irgendwann steigt ein unrasierter, etwas unangenehm riechender Penner ein, mit glasigem Blick und einer Wodkaflasche in der Hand. Der setzt sich doch glatt zu dir, denke ich, das könnte lustig werden, Abwechslung an diesem dunklen, frühen Morgen. Er setzt sich auf einen Einzelplatz, schaut resigniert aus dem Fenster und nimmt einen großen Schluck aus seiner Flasche. Prost, denke ich, jetzt wird dir sicherlich warm. An der Otto-Braun-Straße liegt Schnee, wahrscheinlich wird hier ein Film gedreht, sicherlich irgendetwas mit Bourne, in diesen Bourne-Filmen liegt immer Schnee in Berlin, glaube ich zumindest.

Die Bahn fährt fahrplanmäßig durch die Stadt, immer der gleiche Weg, vorbei an Häusern, die langsam wach werden, ihre zahlreichen Augen öffnen, einem neuen Tag entgegen gehen. Auf einem Plakat wird für Big Brother geworben, ach so, das fängt ja auch wieder an. Praktikanten, die sich freiwillig in eine Art Karnickelstall mit tausenden Minikameras sperren und bei jedem Furz abfilmen lassen, in der Hoffnung, irgendwann mal irgendwas Großes zu gewinnen oder berühmt zu werden. Im Prinzip könnte das als Experiment am Menschen ganz interessant sein, ganz nüchtern betrachtet, man muss nur die Idiotie dahinter ertragen können, den Blödsinn, den Stumpfsinn. Die, die dort mitmachen, können das vielleicht (oder sich einfach nur gut verstellen), doch können das die Zuschauer auch? Auf Dauer? Ein weiteres Plakat wirbt für eine Hochzeitsmesse. Für alles gibt es Messen, Hochzeitsmessen, Kindermessen, Immobilienmessen, Automessen, Bootsmessen, womöglich gibt es auch Scheidungsmessen oder auch, warum denn nicht, Bestattungsmessen. Dort könnte man wichtige Vorkehrungen treffen, im Falle, dass man zum Beispiel beim Big Brother - schauen am Stumpfsinn zugrunde geht. Nun ja, man muss es nicht schauen, aber Blogs sind manchmal auch nicht viel unterhaltsamer. Brian Molko haucht mir gerade ein theatralisches "Please don´t die" durch die Lebenserhaltungsmaschine in den Kopf, nein, Sterben steht für heute nicht auf dem Plan, auch nicht für morgen, überhaupt nicht, mittelfristig gedacht.
 
Mi, 31.01.2007 |  # | (733) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 

Haltestellenkino

Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck biss eine junge Frau, in blauer Jeans mit einem eng anliegenden ärmellosen T-Shirt, mit offenen Haaren und einer übergroßen Sonnenbrille, in einen riesigen Burger, darauf bedacht, nicht in das ihn unhüllende und schützende Papier zu beißen, an der Seite rutschte ein wenig Tomate mit einem größeren Klecks Soße darauf heraus und drohte, plötzlich herunter zu fallen. Mit der Hand bugsierte sie das Stückchen in den Mund und leckte sich langsam mit der Zunge die klebengebliebenen Soßenreste von den Fingern und den fettigen Lippen. Neben ihr stand eine ebenfalls junge, abgemagerte Frau im Sommerkleidchen, mit hohlen Wangen, leicht angefettetem Haar und Beinen, die an lange, dünne Partyspießchen erinnerten. Sie ekelte sich offensichtlich, allerdings kann ich mir vorstellen, dass sie gerade wirklich keine appetitlichen Gedanken hatte. Sie rauchte, wischte sich nervös Strähnen aus dem Gesicht und versuchte eisern, ihren Blick von dem vor ihren Augen stattfindenden Burgermassaker abzuwenden. Es gelang ihr nicht ganz.

Zwei Männer mit einer ganzen Ladung alter Taschen und fast auseinanderfallender Koffer, die nur noch durch braunes Klebeband zusammen gehalten wurden, stiegen in die Straßenbahn ein. Der erste hatte einen riesigen Kopf, war ausgemergelt, die Wangen gelblich und hohl, wenn er lachte sah man, dass ihm die Schneidezähne fehlten. Er trank ständig aus einer noch halbvollen Ouzoflasche und gab ab und an laute Kommentare im breitesten sächsischen Dialekt von sich. Sein Begleiter hatte schütteres graues Haar, ebenfalls schlechte Zähne, ungepflegte Hände und trank andächtig billiges Bier. Beide umgab eine ordentliche Wolke süßlicher Alkoholausdünstung, ein wenig angereichert mit käsigem Schweißgeruch, zum Glück war das Fenster offen. Der Ouzo-Trinker erklärte in regelmäßigen Abständen seinem Kumpanen die gerade durchquerten Stadtbezirke, ab und an lachten sie beide über Witze, die ich allerdings nicht immer verstand, und tranken aus ihren Flaschen.

Vorne im Wagen saß eine ältere Dame, korpulent, mit weißem Gesicht und leuchtend rot gefärbten Haaren und grauem Haaransatz. Sie trug eine sommerlich geblümte Bluse und eine viel zu enge 7/8-Jeans, die nicht nur ihre Fettpolster über den Hosenbund herausfallen ließ, sondern ihre wenig bewundernswerten Waden und Füße freilegte. Die weißen Waden waren fleischig und von dicken Adern durchsetzt, die Füße knorrig und ungepflegt und in abgelatschte Flip-Flops gepresst. Mit Schweißperlen auf der Stirn löste sie ein Sudoku in der Zeitung, zwischendurch blickte sie traurig aus dem Fenster und stöhnte dabei ganz leise.

Die Bahn fährt stetig ihre Runden, hält meist zur vorgegebenen Zeit an den Haltestellen der Route, Leute steigen ein, sie steigen aus, ein ständiges Kommen und Gehen, ab und an wird um einen Sitzplatz gestritten, um offene oder geschlossene Fenster, versperrte Gänge, ausgefaltete Zeitungen, deren Enden einem oftmals in der Nase bohren, zu laute MP3-Player, es wird gelacht, geflirtet oder stumm vor sich hin geschwiegen, fremd gegangen, Verbrechen geplant, vergessen oder bereut und wenn man Glück hat, wird man nicht beim Schwarzfahren erwischt.
 
Sa, 16.09.2006 |  # | (483) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 



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(geborgt bei flickr)


Online seit: 08.02.2006
Letzte Aktualisierung: 02.04.2024, 15:05


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