Wahrnehmung, 1. Versuch Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. (aus "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von Rainer Maria Rilke) Ich glaube nur, was ich sehe. Immer wieder bleibe ich an diesem Satz hängen und schränke mich damit ein. Alles ist doch relativ, denke ich auch, Zeit und Raum lassen sich verbiegen, verbiegen Gedanken am Ende die Realität? Alles ist eine Sache der Wahrnehmung. Wie oft habe ich Scheuklappen auf und sehe nur, was ich sehen will, blende bewusst oder unbewusst Dinge aus, die mir vielleicht nicht passen, die mir nicht wichtig erscheinen. Du hörst nur, was du hören willst, wie oft hörte ich das schon, obwohl ich es nicht hören wollte, aber ich muss ihr recht geben. Selektive Wahrnehmung, vielleicht kann man die Welt auch nur so ertragen? In dem man sich an wenig Schlechtem und viel Gutem festhält, verhindert man damit vielleicht den eigenen Fall, aber man schränkt sich ein, oder? Wo bleiben denn dann die neuen Perspektiven? Andere Blickwinkel? Ja, die Offenheit, sie geht doch verloren und am Ende landet man selbst in einer dieser kleinkarierten Ecken, aus Angst, Bequemlichkeit, Resignation. Der kleine Junge steht vor mir und lacht, ab und zu hüpft er und wackelt lustig mit dem Kopf, so dass seine blonden Locken hin und her fliegen. Schau mal, ruft er, schau, der Ball, er fliegt, ganz weit. Er streckt seinen linken Arm weit nach oben über seinen Kopf und tut mit dem rechten so, als würde er den Ball werfen. Der Ball bleibt in seiner Hand und doch fliegt er, geradewegs auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, auf die Spitze einer in der Nähe stehenden Kastanie, irgendwann ruft er, dass er den Ball nun zum Mond geschmissen habe und lacht dabei. Ich sehe, wie der Ball fliegt und fliegt und fliegt, er ist nicht mehr aufzuhalten und schließlich landet er auf dem Mond, gleich neben dem Fußabdruck von Neil Armstrong, dass der dort oben war, kann ich kaum glauben. Vielleicht verstehe ich jetzt, sage ich zu mir, ich habe meine erste Lektion gelernt, der kleine blonde Junge verbiegt die Realität, denkt sich seine eigene, er sieht, wie der Ball fliegt, weil er es so will, er zaubert, nur für sich selbst und ich, ich lache mit ihm.
Ich glaube auch nur
was ich sehe. Und manchmal sehe ich eben auch nur das, was ich sehen will. Oder manches anders, als es ist. Und manches sehe ich einfach gar nicht. Weder noch.>> Kommentieren Schönes Bild, mit dem fliegenden Ball. Ich bin fest davon überzeugt, dass Gedanken die Realität verändern. Verbiegen gefällt mir nicht, das würde voraussetzen, dass es eine tatsächliche ("gerade") gibt. Ich halte das eher für eine sehr individuelle Sache, mit der Realität und so. >> Kommentieren rilke war komisch. wohl kein glücklicher vater. seine figuren sind auch so. ;) die letzten gedichte rilkes sind übrigens die beeindruckensten, wider willen - ich mit meinem grundsatz, rilke nicht zu mögen. im sterbebett wird er sympathisch, muss seine ganze weltanschauung revidieren. schmerzen, das ist nun sein konkretes leben. wer ohne schmerzen ist, kann nicht behaupten, das leben zu kennen. so ist es wohl. >> Kommentieren Jekylla, manchmal betrügt einen der eigene Blick und dann verpasst man wichtige Informationen, nur weil man auf ausgetretenen Pfaden wandelt und dann vergisst man dies und das einzukaufen oder am Ende noch wichtigeres. Ich traue inzwischen nicht einmal mir selbst. Novemberregen, gut, verbiegen ist vielleicht das falsche Wort, verändern passt vielleicht besser. Ansonsten stimme ich Ihnen voll zu, Wahrnehmung ist sehr individuell. Morphine, Rilke, ja, na ja, die Gedichte, sag ich jetzt lieber nix zu, als Laiendarsteller. Ich muss zugeben, dass ich nach der Hälfte der "Aufzeichnungen..." mehr oder weniger in den Leerlauf geschaltet habe, das war alles zu weit weg von mir. Vielleicht bringt ein zweiter oder dritter Durchgang mehr Erkenntnis, aber dazu konnte ich mich bisher nicht durchringen. Kann man ohne Schmerzen sein? (Vollkommen schmerzbefreit?) Dann ist man doch tot, oder? >> Kommentieren |
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