Eine Indianergeschichte? Was mit Indianern... Ein Radfahrer fährt vorbei, er grinst, erst nach vorne schauend und dann später auch nach mir blickend, mit leicht angewinkeltem Kopf und unter ihm das Fahrrad surrt durch den Morgen, an der leeren Bushaltestelle vorbei. Übrig bleibt eine Spur von "Tabac Original" oder ist es "Old Spice"? Ich trete hindurch, durch die Duftspur und nehme Witterung auf, Erinnerungen werden wach, Gerüche wecken immer Erinnerungen, weißt du noch, denke ich und rede mit mir selbst oder mit dem Hund oder dem Radfahrer, der sich aber nicht mehr an mich erinnern kann. In der Ferne sieht man ihn noch fahren, auf seinem surrenden Rad, aber er ist bereits Vergangenheit. Vergangenheit und dann dieser Duft, Geruchsspuren, alles Assoziationen, die aus dem Nichts gerinnen, aber jetzt bloß nicht in eine künstliche Kunstsprache verfallen, das wäre doch zu künstlich. Dran bleiben, am Leben, erleben, aufnehmen, lagern und später neu zusammensetzen, konstruieren, das vorhandene Material verformen und Neues erschaffen. Jetzt aber bitte nicht abweichen, diese Betrachtung vielleicht an anderer Stelle. Eine Indianergeschichte. Geburt, Leben, Lernen, später der erste Blick in ein Regal voller Bücher, das ist schon Jahre her, eher Jahrzehnte, in diesem Regal, in einer Wohnung, die schon längst von anderen bewohnt wird, die erste Rarität zum Thema, aber kein Winnetou, kein Old Shatterhand, kein Lederstrumpf, kein Tokei-ihto, nein, "Blauvogel", damit fing alles an. Allerdings beschränkt sich diese Erfahrung lediglich auf Literatur, kindliche Spiele und jugendlicher Leichtsinn bezogen sich auf anderes, wir klauten keine Pferdewagen, bauten keine Tipis und taten auch nicht so, als würden wir Friedenspfeife rauchen, im Höchstfall waren wir Sherriff und Schurken, irgendwann mal auch ein Steinbruch im Riesengebirge, dort ein paar Indianerutensilien, zum Spaß wurde jemand an den Marterpfahl gebunden, ach, da fällt es mir ein, gleiche Szene auch im Brandenburgischen, jemand steht angebunden an einer Kiefer, der Boden mit Kiefernadeln bedeckt, märkischer Sand, märkische Heide, das ist schon fast preußische Kindheit, wenig Prunk, dafür staubige Kartoffelfelder, der Hochsitz eines Jägers, in der Ferne ziehen Schiffe über die Dahme, dort das Ufer, an dem also jemand an eine Kiefer gebunden war, nur Spaß, eine Indianerhaube war mit im Spiel, selbst gebastelt, aus den Federn von Schwänen, aufgelesen am See, der längst versumpft ist und dazu helles Indianergeheul aus dem Munde eines Kindes mit Sommersprossen auf der Nase, in der Hand ein Gewehr aus Plastik, eine Attrappe, Imitation. Also doch eine Indianergeschichte. Später dann die Flegeljahre, aufgebrochene Bauwagen, heimlich aufgelesene Pornoheftchen, mitgenommene Verlängerungskabel, Bagger, die nicht kurz geschlossen werden konnten, ein geklautes Radio und durch die Luft fliegende Lehmklumpen, durchs knietiefe Gras waten, während in der Ferne S-Bahnzüge rollten und die Füße später in der Wuhle, zur Abkühlung, echte Freundschaft, unerschütterlich. Schöne Jahre, Berliner Jahre, aber keine Indianergeschichten mehr. Oder vielleicht doch, jedenfalls im übertragenen Sinne, nämlich Spuren lesen, sich auf Kriegspfade begeben, Kriegsbeile begraben und dann Zusammenkünfte bei Maracuja-Brause, die beste Brause für den Großstadtindianer, nen paar Pfennige hatte man ja immer dabei und klauen, nee, klauen musste man nicht, warum denn auch? Der Tag verrinnt, später dann ein Spaziergang im Tierpark, Sonne wärmt, aus dem Boden schießen Osterglocken, Krokusse, lila und gelb, Schneeglöckchen und die Tiere sind ganz aufgeregt. Die Assoziationskette ist abgerissen, Realität spricht dagegen, Neues kommt hinzu, neue Eindrücke, neues Leben, auch ein wenig Abneigung gegen die Umwelt, aber man muss ja auch mal raus aus der Bude und den Frühling erleben. Die Kinder sind inzwischen selbst Cowboys, Indianer sind eher unbeliebt, die Schurken, ich denke, sie werden noch merken, auf wessen Seite sie stehen wollen, nicht die Cowboys natürlich, die Kinder, das ist dann ihre Entscheidung, ihre Erinnerung, ihre Assoziation, ihr eigenes Leben.
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