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Ringbahn

Der Fleischer fragte mich, ob es ein wenig Melancholie sein dürfte. Oder war es Meer? Es war wohl mehr, aber auch das war mir recht. Dann fuhr ich Straßenbahn. Ein kleines Mädchen hatte man mit Deutschlandfahnen bemalt, ich musste an die Zweienhalbjährige denken, die im Fernsehen gezeigt wurde, sie war eigens für diesen Zweck trainiert worden, in der vierer Abwehrkette: auswendig lernen, Video drehen, Youtube, Fernsehen. Sie konnte die Namen aller deutschen Spieler aufsagen, auch die Namen der Trainer, alles in noch leicht unverständlicher Kindersprache, im Hintergrund hörte man die Mutter soufflieren, so geht das also heute mit den Kindern. Als irgendwann mal Xavi auflief, riefen die Jungs laut "Xavi" und zwar im Chor, sie hatten in einer Zeitung ein Poster von ihm gefunden, dieses ausgeheftet, einer hatte es vorgelesen und beide haben sich den Namen zum Gesicht eingeprägt. Solche Momente der Überraschung zu entwürdigen, diese also anders als rein gedanklich aufzuzeichnen, immer feste drauf mit der Kamera, den privaten Papparazzi spielen und dann hochgeladen, iss doch witzisch, nur um irgendwie Aufmerksamkeit zu erzeugen und wenn man dies nicht selber schafft, dann müssen eben die Kinder ran, die haben ja auch den niedlichen Kinderbonus, nein, das geht absolut nicht.

Die Treppe am Bahnhof herunter gehüpft, Hose gerutscht, könnte mal wieder mehr essen, etwas aus dem Meer essen, vielleicht, aber es gibt doch immer so viel zu tun. Menschenansammlung. Unterschwelliger Hass gegen den öffentlichen Nahverkehr, Menschen stapeln sich auf Bahnhöfen, an Haltestellen, man muss plötzlich Gerüche ertragen, die man an sich selbst gar nicht erst erleben möchte, wandelnde Feuchtgebiete, Schweiß, alte Klamotten, Alkoholausdünstungen, kalter Zigarettenrauch und was es sonst noch alles an menschlichen Geruchsausscheidungen oder auch Geruchsanhaftungen gibt. Unerträglich, nur der Gedanke. Dann schien mir auch noch die Sonne auf den Kopf und eigentlich, ja, eigentlich, ja, genau. Eigentlich. Aber doch. Ringbahn, Landsberger Allee. Vor Jahren stand hier noch der alte Schlachthof, den auch Döblin so plastisch beschrieben hatte. Auf dem Weg ins SEZ, das war noch Kindheit, sah ich einmal, wie das Vieh hinein getrieben wurde, umgeben von Angst und Tod, obwohl die Tiere ja gar nicht wissen konnten, dass sie diesen Ort nur noch gut gekühlt, ausgeweidet und blutleer verlassen würden, um dann von hungrigen Menschen verspeist zu werden. Die Industrialisierung der Nahrungskette. Aber nein, ich bin weder Veganer noch Vegetarier, ich halte nur die Eindrücke fest.

Irgendwann kam dann eine Bahn und ein Fensterplatz war frei, auf den ich mich setzte um hinaus zu schauen und zu sehen, was es zu sehen gab. Neben mir zwei Männer die Bier tranken. Bis heute hat sich mir die Notwendigkeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln Bier zu trinken, nicht erschlossen, im Gegenteil, das ist doch radikal abzulehnen, diese vorgezeigte Prolligkeit, dieses Zischen und Klacken und Schlucken und Glucksen, warum machen die das? Ich kann es mir nicht erklären. Vorbei zogen Graffiti, die S-Bahn-Strecke als öffentliche Galerie, man hatte ja selbst mal Träume, die man versuchte, nächtens zu verwirklichen, also dieses mit Adrenalin gefüllte Traben über Stromschienen, dieses Lauschen und Hören und dann schaute man, ob jemand kam und wenn nicht, machte man sich ans Werk, ach, das sprühte und roch so gut, später lag man im Bett und war ganz berauscht, von dem Gedanken und überhaupt fragte man sich, ob man nun Kunst veranstaltet hatte, eine Kunst, die nur wenige akzeptieren, weil sie gesellschaftlich überhaupt nicht anerkannt ist, lieber Musikantenstadl oder Wetten dass...?!, nun ja, so ist das nun mal.

Gesundbrunnen, die Bahn fuhr ein, Umsteigen, in Richtung Wannsee, die Gedanken kamen aber mit, sie rissen nicht ab und die letzten vier Stationen hatte ich mich nicht gelangweilt, beim Hinausschauen aus den zerkratzten Fenstern der S-Bahn.
 
Di, 17.06.2008 |  # | (722) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: haltestellenkino



 
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